Die goldene Regel von Machtpolitik in einer Demokratie lautet, unbeliebte Reformen am Anfang einer Legislaturperiode durchzuführen. Die sympathischere Begründung dieser Strategie ist, dass sich die positiven Wirkungen einer zunächst unbeliebten Reform erst mit Zeitverzug entfalten und – so dies vor der nächsten Wahl geschieht – die Reformpartei am Ende wiedergewählt wird. Die weniger freundliche Variante lautet: Der Wähler ist ein Goldfisch. Was zu Beginn einer Legislaturperiode von den Machthabern beschlossen wird, spielt beim Ankreuzen des nächsten Wahlzettels keine Rolle mehr.
Beide Lesarten sind mit dem Grundprinzip der Demokratie eigentlich nicht vereinbar, wonach die Politik umsetzen soll, was die Mehrheit will. Gegen die Mehrheit zu entscheiden, ist im Kern undemokratisch.
Die Schuld für undemokratisches Regieren nur bei der Politik zu suchen, ist zu einfach und populistisch. Wenn beispielsweise alle, die sich mit einem Thema auseinander setzen, der Meinung sind, dass die Politik etwas ändern muss, wenn aber die Mehrheit sich mit dem Thema gar nicht auskennt und deshalb diese Veränderung nicht will, weil sie den Nutzen nicht erkennen kann, dann wäre es eigentlich für alle gut, dass sich etwas ändert – nur demokratisch ist es eben nicht.
Demokratie befindet sich dann in einem Dilemma: Die richtige Politik ist undemokratisch, die falsche schädlich.
In Wirklichkeit ist die Lage meist noch komplizierter, weil sich auch Experten häufig nicht einig sind, was gut und was schlecht ist. Dennoch gibt es aus dem Dilemma nur einen Ausweg: Eine bessere politische Bildung der Wähler.
Diese Bildung freilich hat Grenzen. Kein Mensch kann auf allen Gebieten Experte sein. Und dennoch: Je mehr sich Menschen für Politik interessieren, desto eher können sie Entscheidungen verstehen, gut finden oder ablehnen.
Aber wie entsteht Interesse für Politik? Durch die Möglichkeit der Teilhabe. Wer etwas verändern kann, ist bereit zu investieren. Digitale Kommunikation ermöglicht diese Teilhabe.
Es ist viel darüber geschrieben worden, wie Facebook, Twitter und Co. helfen, Despoten im Nahen Osten und Nordafrika von der Macht zu verjagen. Weniger diskutiert wird, wie neue Techniken auf demokratische Systeme wirken.
Aber warum soll neue Kommunikationstechnik nur Diktaturen und nicht auch Demokratien gründlich verändern? Die Piratenpartei ist Folge dieser Technikentwicklung und First-Mover im Parteiensystem. Ich bin der Überzeugung, dass die jüngsten Erfolge der Piratenpartei den Anfang einer Veränderung bilden, die ähnlich folgenreich sein wird, wie es die Etablierung der Massenmedien Radio und Fernsehen war.
Der Kern der Veränderung wird eine neue Form der Regelbindung sein. Das Politiker-Motto „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern“ funktioniert bereits heute häufig nicht mehr. In einer Internetwelt, wo jedes Komma für alle abrufbar archiviert ist, wird die Gegenwart schneller von der Vergangenheit eingeholt.
Aber das ist nur der Anfang. Die Piratenpartei gibt erste Hinweise, wohin die Reise geht. Der Politiker wird zum Vollzugsbeamten der Bürger. Charismatiker und Schaumschläger (die Unterscheidung ist nicht immer einfach und bisweilen fließend) braucht es zunehmend weniger. Anzug und Krawatte, gesundes Aussehen und sicheres Auftreten, die Krücken der Glaubwürdigkeit, werden unwichtiger. Weil die Wünsche der Wähler unmittelbarer und häufiger in die Parteipolitik einfließen können, weil tatsächliche Kontrolle möglich wird. Was zählt ist wirkliche Transparenz. Die Technik von heute macht das möglich. Die Technik von morgen wird dies optimieren.
Man kann es auch ökonomisch sagen: Der technische Fortschritt senkt die Transaktions- und Überwachungskosten politischer Entscheidungen. Immer besser lässt sich Politik an Taten als an Worten messen.
Die Folge für die Demokratie: Politik wird nicht mehr so oft gegen den Willen der Mehrheit entscheiden. Mit der negativen Begleiterscheinung des oben beschriebenen Dilemmas, dass eben auch Reformen, die nötig, aber unpopulär sind, unterbleiben. Allerdings führt die Teilhabe zu Interesse. Die Menschen werden kompetenter in ihren politischen Entscheidungen. Das Dilemma wird also immer seltener auftreten.
Nur für die Politik wird der Wind rauer: Pfründesicherung, Geklüngel und Egotrips werden deutlicher schwerer. Dafür stehen die Chancen gut, dass der Berufsstand des Politikers im Ansehen der Bürger steigt. Wer tut, was einem gesagt wird, der darf Zustimmung erwarten.
Warum ich das hier schreibe? Weil der gestrige EU-Gipfel zeigt, wie weit der Weg in diese neue Demokratiewelt noch ist. Eine Pleite Griechenlands komme nicht in Frage, koste es, was es wolle, hatte die Bundesregierung wochenlang verkündet, noch als für jeden Interessierten schon klar war, dass es ohne Schuldenschnitt nicht gehen würde – jetzt kommt die Pleite, koste sie was sie wolle. Über eine Hebelung des Rettungschirms werde nicht nachgedacht, war verkündet worden, als längst deutlich war, dass hunderte Milliarden, hunderte Milliarden zu wenig sind.
Jetzt also ist Griechenland (zumindest teilweise) pleite und soll 100 Milliarden Euro Steuergeld der EU-Bürger erhalten. Die Bundesregierung hat sich der Regelbindung genauso verweigert, wie es die Europäische Union insgesamt bei der Schuldenkrise tat. No-Bail-Out lautete die Grundregel, ohne die der Euro nicht eingeführt worden wäre, die bei der ersten ernsthaften Krise über Bord gekippt wurde und ohne die der Euro nicht überleben wird.
Diese Krise der Europäischen Union zeigt, wie wichtig Regelbindung in einer Demokratie ist. Die digitalen Kommunikationsmöglickeiten erhöhen die Chancen auf bessere Durchsetzung solcher Regeln. Der Euro wird damit nicht mehr zu retten sein, die Demokratie schon.
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