Was der Bahnstreik über die Regeln der Demokratie lehrt

Zur Demokratie gehört der Streit. Aber eben auch die Einigung. Wenn diese nicht mehr möglich ist, oder nur zu hohen Kosten für die Gesellschaft, dann stimmt was mit den Regeln nicht. Der aktuelle Bahnstreik ist ein Indiz dafür, dass die Regeln, wie das Erwirtschaftete verteilt wird, eine Neujustierung braucht.

Was ich damit meine.

Gute Demokratien tragen Konflikte bekanntlich regelbasiert aus. Alle werden gehört, im besten Fall kommt es zum Kompromiss mit dem jede Seite leben kann.

Das gilt auch für die vielleicht wichtigste Auseinandersetzung in einer Gesellschaft: die Verteilung des Erwirtschafteten. Was geht an die Kapitalseite, was bekommt der so genannte Produktionsfaktor Arbeit? Die Antwort auf die Frage wird regelmäßig in Tarifverhandlungen ausgehandelt.

Diese Verhandlung führen Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen alleine. Tarifautonomie heißt dieses hohe Gut der Demokratie.

Der Staat ist dennoch ein entscheidender Akteur. Er bestimmt nämlich, zu welchen Bedingungen dieses Spiel stattfindet, und er bestimmt damit indirekt auch, welche Seite welchen Teil des Kuchens erhält.

Lange Zeit galt dieses so genannte kollektive Arbeitsrecht in Deutschland als vorbildhaft auch für andere Staaten. Trotz des immanent konfliktbehafteten Verhältnisses kam es regelmäßig zu Einigungen, mit denen beide Seiten leben konnten. Vor allem aber: Dritte waren von den Auseinandersetzungen überschaubar betroffen, der Tarifkonflikt blieb weitgehend, wo er hingehörte, innerhalb der Betriebe.

Das hat sich seit der Aufhebung der Tarifeinheit 2010 geändert. Damals hatte das Bundesarbeitsgerichts den Richtsatz „ein Betrieb, eine Gewerkschaft“ gekippt. Die Folge: Die Bedeutung von Spartengewerkschaften nahm zu. Und damit auch die Möglichkeit, die Streikfolgen zu externalisieren, also mit einem Streik jene zu treffen, die etwa auf eine funktionierende Infrastruktur angewiesen sind – also so ziemlich alle Menschen.

Ohne Lokführer:innen geht nun einmal (noch) nichts im Bahnverkehr. Ohne Pilot:in fliegt kein Flugzeug. Weil Spartengewerkschaften jetzt speziell für solche Berufe verhandeln konnten, bekamen diese starke Druckmittel an die Hand, um die Einkommen und Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder zu verbessern.

Der Gesetzgeber erkannte das Problem, verschärfte aber mit dem Tarifeinheitsgesetz von 2015 das Problem mindestens temporär. Weil jetzt in Unternehmen unterschiedliche Gewerkschaften um die Vorherrschaft kämpfen, und sie tun dies, indem sie für ihre jeweiligen Mitglieder einen besseren Tarifvertrag erkämpfen wollen als es jener der Konkurrenzgewerkschaft ist.

Hinzu kommt ein Spezialfall bei der Deutschen Bahn. Dort gelten die Tarifverträge auf Betriebsebene. Von denen hat die Bahn viele. In einigen verhandelt die Gewerkschaft der Lokführer (GDL) als dort stärkste Gewerkschaft. Wegen dieser besonderen Konzernstruktur zieht die Bahn als Arbeitgeber:in kaum Nutzen aus dem Tarifeinheitsgesetz.

Die Frage ist also – trotz Tarifeinheitsgesetz – folgende grundlegende: Wie lässt sich künftig vermeiden, dass Gewerkschaften Dritte in Haftung für ihre Forderungen nehmen können?

“Mit dem inhärenten Bedrohungspotential für die Funktionsfähigkeit einer verflochtenen Wirtschaft wird ganz offenkundig gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen”, schreibt der Soziologe und emeritierte Hochschullehrer Ralf von Lüde im Wirtschaftsdienst.

Lüde fordert deshalb:

“Sofern es die Arbeitsgerichtsbarkeit nicht aus eigener Einsicht schafft, muss eine Ahndung dieses Verstoßes durch den Staat als drittem Akteur der industriellen Beziehungen im Gesetzgebungsverfahren erfolgen.“

Wie aber geht das, ohne das hohe Gut der Tarifautonomie zu beschränken?

Durch die Einführung einer Zwangsschlichtung, meint Lüde.

Genauer gesagt schreibt er:

“Ohne die Koalitionsfreiheit zu beschränken, würde z. B. die Einführung einer regelbasierten Zwangsschlichtung dazu beitragen, die Streikfolgen für die unbeteiligten Nutzer der Infrastruktur auf ein hinzunehmendes Niveau zu beschränken.”

Das freilich wäre de facto dann doch das teilweise Ende der Tarifautonomie.

Allerdings nur in wenige Bereichen, etwa beim Fliegen und Zug fahren, wo eben die Auswirkungen von Kampfmaßnahmen vor allem die Allgemeinheit treffen.

Zwangsschlichtung also für wenige Bereiche.

Eine gute Idee? Ich tendiere dazu. Demokratie lebt von der Begrenzung von Macht. Vor allem, wenn sie zu hohen Kosten bei Unbeteiligten führt. Beim aktuellen Bahnstreik ist das ziemlich genau der Fall.

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