Autoritäre Staaten fürchten die neuen Medien – Jetzt erwartet sie eine weitere Bedrohung
Die Freiheit kam Anfang des Monats in Form eines gewöhnlichen Nokia-Handys zurück. Der Staatschef hatte es aus seiner Tasche gezogen. Mitten während seiner Rede zum Nationalfeiertag. “Auf diesem Handy ist ein kleines Programm mit dem Namen Qik installiert”, erklärte Lee Hsien Loong, Premierminister von Singapur, einem staunenden Publikum. “Dieses Programm macht aus dem Handy eine Videokamera und überträgt das Bild direkt auf meine Webseite”. Und als Loong das Mobiltelefon anschaltet, sehen sich die Zuschauer auf einer großen Leinwand selbst – gefilmt von ihrem Staatschef. Spontaner Applaus brandet auf.
Dabei hatte der Premierminister lediglich präsentiert, wie einfach es geworden ist Livebilder zu senden – in die ganze Welt. Wo früher ein Dutzend Techniker anrücken mussten um Bewegbilder in die Wohnzimmer zu bringen, reicht heute ein mobiles Telefon. Aber für Singapur war diese Demonstration mehr als eine technische Spielerei, sie war eine kleine Revolution.
Singapur ist eine Demokratie. Aber keine Demokratie nach europäischen Vorstellungen. Der asiatische Stadtstaat ist autoritär. Im weltweiten Vergleich werden dort, im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl, die meisten Todesurteile vollstreckt; das Regierungssystem besteht praktisch nur aus einer Partei (der PAP); die Presse wird zensiert. Außerdem sind in Singapur politisch motivierte Bewegbilder seit zehn Jahren nicht mehr erlaubt. Paragraf 33 des so genannten Filmgesetzes verbietet das Drehen, Reproduzieren, Verbreiten und Ausstrahlen von “parteipolitischen Filmen”.
Der Paragraf soll jetzt fallen, zumindest abgeschwächt werden. Das verkündete Lee in seiner Rede am Nationalfeiertag. Jeder könne nun ein “Amateur-Filmer werden” und die “Politik aufnehmen”, so der Premierminister. Ein “vollständiges Verbot” sei nicht mehr nötig. “Das ist bei weitem die größte politische Verbesserung in den vergangenen 20 Jahren”, freute sich Filmemacher Martyn Seen in der singapurischen Zeitung “The Strait Times”. Mehrere seiner Filme sind bisher verboten.
Vermutlich hatte Premierminister Lee keine andere Wahl. Er ist in die Offensive gegangen, bevor die Öffentlichkeit gegen ihn ging. Singapur ist politisch autoritär, wirtschaftlich aber liberal. Neueste Technik ist dort an jeder Straßenecke zu haben. Auch die neueste Medientechnik. Und die schafft zunehmend, was für autoritäre Systeme lebensbedrohlich ist: Öffentlichkeit. Ein Korruptionsfall wird durch Blogger weltweit bekannt, eine niedergeknüppelte Demonstration entwickelt sich dank YouTube zur mittleren Staatskrise.
Neue Medien teilen mit, was die Regierenden gerne geheim gehalten hätten. Dass nämlich zum Machterhalt Repression notwendig ist. Es wird offensichtlich, dass die Herrschenden herrschen, nicht weil sie vom Volk gewollt sind, sondern weil sie es unterdrücken.
Live-Übertragungen im Internet werden in Zukunft Macht untergraben, die ohne demokratische Legitimation erlangt wurde. Nicht radikal. Eher als kleines Mosaik eines großen Bildes, das den Titel “Die ganze Wahrheit” trägt. Qik.com, ustream.tv oder mogulus.com heißen die ersten Dienste, die solche Live-Übertragungen anbieten. Die Verwendungsmöglichkeiten sind vielfältig. Zum Beispiel auf Demonstrationen. Wer von dort mit seinem Handy sendet, hat potentiell die gesamte Weltöffentlichkeit hinter sich. Zumindest so lange ihm die Kamera nicht abgenommen wird. Aber dann ist zumindest das bereits gesendete Material im weltweiten Netz verteilt.