Wenn Regeln fehlen: Wie lässt sich die Zahl tödlicher Fahrradunfälle verringern?

Wenn es hart auf hart kommt, wenn einer nicht in letzter Sekunde das Lenkrad herumreißt, wenn statt “Oh man, Glück gehabt” keine Worte mehr gesprochen werden können, dann sind Fahrradfahrer, Fußgänger und Kinder die Verlierer.

Gestern ist so ein unfassbares Unglück geschehen. In unserem Kiez ist ein 42-Jähriger Fahrradfahrer unter einen LKW gekommen. Er sei, ohne auf den Verkehr zu achten, von einer Nebenstraße (Hideenseer Straße) auf die vielbefahrene Prenzlauer Allee eingebogen.

Unfallort

Das klingt ziemlich unvernünftig. Aber nur auf den ersten Blick: Denn wer von der Hiddenseer Straße Richtung Prenzlauer Allee radelt (siehe Foto unten), der ahnt nicht, dass dort der Tod warten kann. Kein Verkehrsschild warnt. Man kann denken, hier gelte “rechts vor links” (ist vermutlich nicht so, weil die Pflastersteine anzeigen, dass hier “Vorfahrt achten” gilt, oder?). Jedenfalls können nur Ortskundige wissen, wie viel Verkehr und wie schnell dieser auf der Querstraße vorne fließen kann.

Hiddenseer Straße

Neun Menschen sind 2013 in Berlin beim Fahrradfahren tödlich verunglückt (bei 130.000 Verkehrsunfällen bei denen 6952 Radfahrer beteiligt waren). Ich hätte vermutet, dass die Zahl höher ist.  Wahrscheinlich ist sie es genau deswegen nicht.

Weil ich als Radfahrer, wie viele andere, den Straßenverkehr in Berlin als einigermaßen gefährlich einschätze. Mein subjektives Gefahrenempfinden ist also hoch. Ich fahre folglich tendenziell vorsichtig. Schutzlose Menschen verhalten sich meist defensiv.

Radfahrer schauen lieber zwei Mal, bevor sie abbiegen. Sie wissen, dass ein einziger Fehler schlimme Konsequenzen haben kann. Deshalb wird die Mehrheit der Unfälle mit Fahrradbeteiligung auch von Autofahrern verursacht (am gefährlichsten sind Kfz-Lenker, die beim Abbiegen die Vorfahrt von Radfahrern missachten). Sie müssen nicht um ihr Leben fürchten, wenn sie einen Fehler begehen (zumindest nicht in der Stadt).

Das Wissen um die eigene Verletzlichkeit ist also ein guter Schutz (lesenswert: Was passiert, wenn der Mensch keine Schmerzen spürt).  In diesem Sinne sind alle Menschen gleich.

Warum aber fahren Radler in Berlin anders als in Amsterdam? Warum schießen die in Berlin beliebten Fixies (siehe Foto unten) durch jede Lücke im Straßenverkehr, während die Amsterdamer mit Hollandrädern durch die Gegend gondeln. Allgemeiner gefragt: Was bestimmt unser Verhalten im Straßenverkehr? Warum wird in manchen Städten aggressiver gefahren als in anderen? Und: Kann man das ändern?

Fixie

Aggressivität im Straßenverkehr entsteht vor allem durch den Straßenverkehr selbst. Wir haben ein Ziel (schnell ankommen) und die Zielerreichung wird von anderen Verkehrsteilnehmern und Regeln (etwa rote Ampeln) stetig torpediert. Gleichzeitig sind Autofahrer gezwungen, sich ruhig zu verhalten. Sie sitzen in weichen, aber engen Sesseln, angegurtet. Die einzige Bewegung besteht im Wechsel vom Gas- aufs Bremspedal. Wie winzige Nadelstiche wirkt auf Dauer stockender Straßenverkehr. Ohne Chance, die Frustration in Bewegung ableiten zu können.

Was dieser potenziellen Aggressivität entgegenwirkt: das Gefühl gerecht behandelt zu werden. Verkehrsregeln, an die sich alle halten, wirken so. Wo es dagegen keine Regeln gibt oder diese Regeln nicht eingehalten werden, wird der Fahrstil aggressiver. Weil man sich (von anderen Verkehrsteilnehmern) ungerecht behandelt fühlt und weil, wer Rücksicht nimmt, verliert (mindestens in dem Sinne, dass er langsamer vorankommt). Nur wer sich mit Ellebogen-Mentalität durchsetzt, kommt bei regelfreiem Verkehr an sein Ziel.

Was die Ordnungspolitik in der Marktwirtschaft, ist die Straßenverkehrsordnung bei Mobilität: Sie schafft einen verlässlichen Rahmen, in dem sich alle zu gleichen Bedingungen bewegen können. Regelgeschaffene Fairness verhindert Aggressivität. 

Ich vermute, dass neben Regeln und deren Einhaltung auch die Verkehrsinfrastruktur eine entscheidende Rolle für das Fahrverhalten spielt. Breite und zahlreiche Fahrradwege etwa (wie sie in skandinavischen Großstädten zu finden sind) führen dazu, dass man auch ohne aggressives Verhalten zügig vorankommt. Es ist dann schlicht ökonomisch, im Fluss anderer Fahrradfahrer “mitzuschwimmen”. Es geht vorwärts, auch ohne dass man sich das Vorwärtskommen erkämpfen muss.

Übrigens: Man könnte vermuten, dass vor allem junge, männliche Fahrradfahrer besonders häufig tödlich verunglücken. Deren bevorzugtes Fortbewegungsmittel in Berlin, das Fixie-Rad mit schmalem Lenker (um sich durch den stehenden Autoverkehr zu schlängeln) und bedingter Verkehrssicherheit (kein Licht, keine Klingel, Bremse nur über Pedale – wehe, wenn die Kette abgeht),  könnte Ursache für zahlreiche tödlichenVerkehrsunfälle sein.  Sie ist es nicht:  Frauen und Ältere sterben überdurchschnittlich oft bei Fahrradunfällen.

-> zum gleichen Thema: die Redaktionskonferenz auf DRadio Wissen 

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2 thoughts on “Wenn Regeln fehlen: Wie lässt sich die Zahl tödlicher Fahrradunfälle verringern?

  1. Ich möchte noch ergänzen, dass ich mich auch deswegen an die Regeln halte, um möglichst niemandem zu schaden, geschweige denn von der Tatsache, dass ich nicht wirklich weiß, ob meine Versicherung bezahlt, wenn ich wirklich mal einen Unfall verursache, den ich bewusst in kauf genommen habe bei Mißachtung der Regeln (und nicht einfach abhaue).
    Ich möchte aber auch sagen, dass auch ich oft denke, wie blöd ich eigentlich bin, manchmal der einzige Depp zu sein, der (bzw. die) am Alex an der roten Ampel zu stehen und zu warten, anstatt mich wie die anderen auf den Bürgersteig zu schwingen und einfach weiter zu fahren.

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  2. Egal, wie gefährlich die Kreuzung auch immer sein mag: Rot ist für viele Radfahrer in Berlin nur eine Option. Nicht immer, aber überwiegend. Aber ob andere (Fahrradfahrer) über Rot fahren ist mir als Rad- und Autofahrerin nur am Rande wichtig. An diesen Punkten gefährden sie sich im Wesentlichen häufig nur selbst.

    Ich versuche! mich strikt an die Regeln zu halten, weil ich zwei Führerscheine habe, weil ich zwischendurch nicht Privathaftpflichtversichert war (jetzt wieder) und weil ich glaube, dass man mit der strikten Einhaltung der Verkehrsregeln schneller durch Berlin kommt, und es damit das “Alltagsleben” in der Stadt viel “freier” macht.
    Natürlich unterlaufen mir auch Fehler, wie jedem anderem auch. Aber ich versuche sie zu vermeiden.
    Was mich ärgert sind Radfahrerrinnen auf dem Bürgersteig, in falscher Richtung auf dem Fahrradweg, vom Bürgersteig kommend -vermeintlich- ohne zu schauen auf den Radfahrweg einbiegend. Natürlich in Situationen, in denen sie andere behindern und gerne auch oft schnell, auf jeden Fall bewusst.
    Gerade ein Beispiel, das mir heute passiert ist, und der Grund ist, diese Site gefunden zu haben:
    In einer Fuß- und Fahrradzone treffe ich von rechts kommend auf eine Fahrradfahrerin, die von links kam. Sie hält nicht an, fixiert mich, und fährt langsam auf mich zu. Das Ergebnis: Wir beide mussten kurz anhalten und den Fuß auf den Boden setzten um dann wieder weiter zu fahren. Wie Sinnlos. Sowas, oder so ähnlich, passiert mir häufig. Häufiges, kurzes anhalten oder stocken, weil elementare Regeln oder einfach auch platte Höflichkeiten im gemeinsamen Umgang nicht eingehalten werden.

    Zu Stoßzeiten in und um die Rosenthaler Str., wenn die Menge an Fahrradfahrer/innen eine kritische Masse überschritten haben, dann gelten sowieso keinerlei Vorfahrtsregeln oder Ampeln. Wie ein Schwarm Sardinen im Meer. Und der Rest des Verkehrs, egal ob Grün oder nicht, muss warten, wie bei einem Naturereignis. Steckt man selber in diesem Schwarm drin, ist ein Anhalten äußerst gefährlich.
    Am Alexa, morgens im Berufsverkehr: Ich habe es zweimal selbst erlebt, dass aufgrund der Masse an Fahrradfahrern der Fahrradweg nahezu lächerlich zu schmal ist, während gleichzeitig auf der Straße, wegen der Ampelschaltung, kaum ein Auto fuhr. Es dauert nicht mehr lange, nächstes Jahr?, dann wersen die Fahrradfahrerinnen auf der Straße fahren müssen.

    Ich gebe aber den Radfahrern, und auch mir, nicht die Hauptschuld. Die eigentliche Ursache ist die Berliner Politik, und mit ihr, die Polizei. Denn ich beobachte, und ich liege bestimmt nicht falsch, dass, schon seit einer Weile, der Straßenverkehr nur durch Ampeln und Schilder, ansonsten weitestgehend “unmoderiert” sich selbst überlassen ist. Eine ordnende, mahnende, und manchmal auch sanktionierende “Hand” kann ich auf meinem täglichen Weg zur und von der Arbeit, durch 3 Stadtbezirke, nur noch selten feststellen.
    Verkehrserzieherische Aufgaben werden zunehmend dem “Bürger” selbst überlassen. Natürlich mit äußerst bescheidenem Erfolg. Wer kennt sich schon in der Straßenverkehrsordnung detailliert aus? Und so erfahre auch ich verkehrserzieherische Maßnahmen von anderen, die sich bei einer späteren Prüfung über das Internet als völlig falsch und haltlos erweisen. Hier geht es dann um die “gefühlte” Vorfahrt, bei Situationen die nur wenig komplizierter sind, als rechts vor links.
    Aber das schafft Aggressionen. Und ohne die übergeordnete Institution, die eingreift, wird der Straßenverkehr immer aggressiver.
    Und dafür, dass m.M.n., der Straßenverkehr sich oft nur noch sich selbst überlassen ist, sind die Unfallzahlen erstaunlich gering. Noch. Denn immer mehr vor allem junge Menschen machen -angeblich- keinen Führerschein mehr, und die Fahrradfahrer/innen-Zahlen steigen in Zukunft. Und dann werden auch die Unfallzahlen mit Fahrradbeteiligung steigen. Und ich prognostiziere: Sprunghaft.

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