
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Das klingt sozialer als es bisweilen ist. Denn es bedeutet auch Gerangel um Positionen in Hierarchien, letztendlich um Macht, und damit um Zugang zu Ressourcen.
Einen Platz in der Gesellschaft zu finden, gehört zur Natur des Menschen. Ist gewissermaßen eine Konstante menschlichen Zusammenlebens. Anders ist es mit der Frage, wie wir damit umgehen. Was wir daraus machen. Welche Regeln geben wir uns als Gesellschaft, damit etwa die Menschen gleiche Chancen haben etwas zu werden? Damit die Frage, wo wir in der Hierarchie landen, nicht vorherbestimmt ist. Damit wir nicht davon abhängen, was unsere Eltern waren, woher sie kamen, was sie wurden, oder welches Geschlecht wir selbst sind.
Es ist nicht lange her, da war klar definiert, wer was wurde. Die Kinder von Adeligen wurden Adelige, die Kinder von Leibeigenen Leibeigene, und die Töchter von rechtlosen Frauen wurden rechtlose Frauen. Die Welt hat sich gewandelt. Der Wunsch nach gleichen Rechten für alle hat erst die Demokratiebewegung hervorgebracht und dann die Demokratie selbst.
Das ist ein großes Glück.
Aber wie weit sind wir gekommen?
Wir schauen in den Rückspiegel und sind stolz. Unsere Welt ist gerechter geworden. Zumindest für jene, die in einem Rechtsstaat leben. Aber was werden zukünftige Generationen sagen, wenn diese in den Rückspiegel schauen und unser Leben bewerten?
Denn der Punkt ist doch: Wir erkennen Ungerechtigkeiten vor allem dann, wenn sie in der Vergangenheit liegen. Die Gegenwart erscheint uns oft ziemlich gerecht. Mindestens normal. Weil wir in ihr aufgewachsen sind. Weil was wir kennen, der Ist-Zustand ist. Wer in einem Haushalt groß wird, indem Sklaven die Haus- und Feldarbeit verrichten, für den kann Sklavenhaltung das Normalste der Welt sein. Und noch vor 200 Jahren war es hierzulande selbstverständlich, dass in Politik und Militär nur was wurde, wer adeliger Abstammung war. Und noch vor gut 100 Jahren war die Mehrheit in Deutschland der Ansicht, dass das Wahlrecht für Frauen Blödsinn ist. Wir denken heute, wie dumm die Menschen damals waren. Weil sie nicht sahen, in welch schreiend ungerechter Welt sie lebten. Aber sie waren halt auch das: Kinder ihrer Zeit.
So wie wir Kinder unserer Zeit sind.
Was wird in zwei Generationen über die Zeit nach der Jahrtausendwende gesagt werden? Wird man sie sich zurückwünschen (vermutlich eher nicht, da man selten tatsächlich in der Vergangenheit leben möchte)? Oder wird man diese Vergangehnehit und damit uns verachten? Ganz sicher wird man sich über manches wundern. Warum wir so waren wie wir waren. Warum wir nicht diese und jene Ungerechtigkeit erkannt haben, es nicht geändert haben, werden sie sich fragen. Es sei doch sowas von offensichtlich gewesen.
Aber was genau wird es sein? Es ist in der Gegenwart so viel schwerer den Blick dafür zu haben. Wir sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Ich wage dennoch den Versuch.
Wir haben einigermaßen erfolgreich die Ständegesellschaft abgeschafft. Und wir sind stolz darauf. Zumindest theoretisch kann heute jeder und jede alles werden. Wir haben aber die Ständegesellschaft durch die Leistungsgesellschaft ersetzt. In der Hierarchie steigt heute auf, wer etwas für andere leistet. Wer dafür entlohnt wird, und wer für diese Entlohnung Zugang zu Ressourcen bekommt. In den Urlaub in ferne Länder fahren kann. Sich eine Krankenzusatzversicherung kauft. Oder sich ein größeres Haus für mehr Familiennachkommen leisten kann.
Hierarchie entsteht heute durch entlohnte Leistung.
Wir empfinden das als gerecht. Wenn also Hierarchie stark vom individuellen Engagement abhängt. Möglicherweise wird man im Rückblick irritiert auf die Ausprägungen dieses Grundverständnisses schauen. Also dass alles von den eigenen Talenten Taten abhängen soll. Kaum etwas von den Bedingungen, die uns umgeben, die uns ausmachen. Zum Beispiel werden Menschen auch heute unter ganz unterschiedlichen Voraussetzungen in die Welt geboren. Man denke nur an die genetischen Unterschiede. In einer Leistungsgesellschaft aber werden aus kleinen Unterschiede große. Nach der Grundschule werden die Heranwachsende in verschiedene Schulzweige separiert. Noten bestimmen über den Zugang zur Hochschulbildung. Und von den Eltern erlernte Verhaltensmuster entscheiden darüber, ob jemand den Grip hat zu promovieren. Am Ende ist die eine Professorin und die andere bittet um Sozialhilfe. Inwieweit aber sind die unterschiedlichen Lebensläufe tatsächlich Ergebnis von Selbstverantwortung? Oder eben (auch) Folge äußerer Bedingungen?
Wir tendieren heute dazu, so ziemlich alles in die Verantwortung jedes Einzelnen zu legen. Ich vermute, dass wir im Rückblick sagen werden, dass dies zu viel des Guten war. Dass wir für Ungleichheit und Ungerechtigkeiten deshalb blind waren, weil wir diese als Ergebnis eigenen Handelns beziehungsweise Nichthandelns interpretiert haben. Und wir deshalb diese Ungerechtigkeiten als legitim angesehen haben. Zumindest stillschweigend akzeptiert haben. Weil selbst verschuldet.
Wenn jeder seines Glückes Schmied ist, dann ist jeder auch seines Unglückes Schmied. Und deshalb unternehmen wir wenig gegen solches “Unglück”. Hinzu kommt: Diese Sicht ist auch deswegen so bestimmend, weil sie von denen, die mächtig und reich sind, die also weit oben in der Hierarchie stehen, vertreten werden, verständlicherweise vertreten werden. Weil sie die Profiteure dieser Sichtweise sind.
Was uns heute also als selbstverständlich und gerecht erscheint, nämlich Ungleichheit in Folge unterschiedlicher Ergebnisse der Leistungsgesellschaft, wird möglicherweise in der Zukunft nicht verstanden werden. Zurecht nicht verstanden werden.
Es gibt am Hauptbahnhof in Berlin, oben im ersten Stock Richtung Ausgang zu Bundeskanzleramt und Bundestag, die sogenannte „DB Lounge Premium“. Zutritt haben nur Zugfahrende der 1. Klasse (Fernzugreisende mit 2.Klasse Ticket verweilen im gleichen Stock gegenüber, in der „DB Lounge“). Neben der Türe zur Premium-Lounge jedenfalls gibt es links daneben eine weitere Türe, die Türe zur Bahnhofsmission. Zu beiden Türen führt ein schmaler kurzer Gang. Auf dem begegnen sich jeden Tag die tendenziell Reichsten und Ärmsten unserer Gesellschaft. Sie laufen für kurze Zeit den gleichen Weg, berühren sich vielleicht, dann trennen sich ihre Wege wieder. Jeder weiß genau, welche Türe er und sie zu nehmen hat. Ich vemute hier hat sich noch keiner vertan. Und wenn, wird den einen der Zutritt verwehrt und die anderen kehren freiwillig wieder um. Hinter der einen Tür gibt es Neonlicht und Tee, hinter der anderen junge, attraktive Menschen hinter einem Tresen und ein Panoramablick auf das Zentrum der Macht.
Vielleicht würde es uns gut tun, bei Fragen der Gerechtigkeit öfters mal die Perspektive zu wechseln.
Zitat: Und deshalb unternehmen wir wenig gegen solches “Unglück”.
Sagen Sie. Andere halten das Gegenteil für wahr.
Gerechtigkeit ist ein soziales Konstrukt. Ein fortwährend verhandeltes Konstrukt. Ihre Gerechtigkeit ist weder die Ihres Nachbarn noch meine.
Sprich – über das gesellschaftlich gewünschte Maß und die gesellschaftliche Ausprägung von Gerechtigkeit entscheidet die jeweilige, lokale Gesellschaft – selten einmütig.
Wollen / sollen “wir” überhaupt allen Menschen die gleichen Chancen geben? Warum?
Und was genau bedeutet in diesem Kontekt “gleiche Chancen”? Möglichkeiten bieten, ohne Ansehn der Person, ohne Ansehen ihrer Vorleistungen / Umstände oder gerade mit Ansehen der Person und unterschiedliche Behandlung wegen Gerechtigkeitsverständnisses?
Gesellschaftlich erstrebenswert scheint mir das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl – sozusagen das jeweilige persönliche (nicht nur materille) Glück bzw. Zufriedenheit multipliziert mit der Anzahl der Menschen der jeweils betrachteten Gruppe – nicht aber die “Glücks-Gleichheit” aller auf höchstmöglichem Niveau. Denn das höchstmögliche wäre m.E. in einer solchen Ausgleichsgesellschaft ein recht niedriges Niveau.
Den Schritt von der Ständegesellschaft zur Leistungsgesellschaft sehe ich vor diesem Ziel als positive Entwicklung weil er (via Wettbewerb) erhebeliche technische/wissenschaftelich Fortschritte und erheblich höheren materiellen Wohlstand und damit verbunden meist auch Wohlergehen ausgelöst hat. Nicht für alle und jeden einelnen aber für eine weitaus überwältigende Mehrheit.
Übrigens – unterschiedliche Startbedingungen durch unterschiedliche Umgebung (genetisch, Fürsorge , Geld, Bildung, usw usf) kann man durchaus als evolutionäre Wettbewerbsaspekte verstehen. A la survivial of the fittest genes. Und damit gut für die Gesellschaft.
Was wäre wohl der nächste Schritt zum größtmöglichen Glück der größmöglichen Zahl?
Mein Tipp: mehr “Gerechtigkeit” ist es nicht.
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