Beenden wir jetzt die Idee der offenen Gesellschaft?

statement / Coswig, Germany / 08 June 2024

Es gibt jetzt Forderungen aus der vermeintlichen Mitte der Gesellschaft, das individuelle Recht auf Asyl abzuschaffen. Dass man Menschen, ohne Prüfung ihres Anliegens, an der Grenze zurückweisen kann. Push backs also. Die große Zahl Geflüchteter mache diesen Schritt notwendig, so wird argumentiert. 

Wie sehr letzteres stimmt, ich mag es nicht einzuschätzen. Grundsätzlich kann ich mir Situationen vorstellen, wo die wunderbare Idee des individuellen Asylrechts im wahrsten Sinne an Grenzen stößt. 

Wenn wir dieses Grundrecht aber hier und heute beenden, ohne an seine Stelle einen neuen, an die Zeit angepassten Schutz für die Leidenden dieser Welt zu stellen, würden wir uns über alle Maßen schuldig machen. 

Denn was würde passieren, wenn wir das Individualrecht auf Asyl abschaffen und Push backs einführen? 

Es würde kein einziger Geflüchteter mehr legal nach Deutschland kommen können, da das Land von „sicheren Drittstaaten“ umgeben und der Staat alle Fluggesellschaften „erfolgreich“ verpflichtet hat, keine Fliehenden in ihre Flieger steigen zu lassen. 

Es gibt Menschen in Deutschland, die würden sich über die Durchsetzung einer solchen Rechtslage freuen. 

Es wäre das Ende jeder Hilsbereitschaft. 

Und das nicht nur in Deutschland. 

Denn die an Deutschland angrenzenden Staaten würden eher früher als später genauso handeln, weil sie ja für alle an der Grenze zu Deutschland Gestrandeten eine Bleibe bieten müssten. 

Die Kettenreaktion würde an der europäischen Außengrenze enden. Die Staaten dort würden eine Festung errichten, weil sonst die Geflüchteten ausschließlich in ihre Länder kommen würden. 

So würde es laufen, wenn Deutschland die Grenzen dicht macht. 

An der Festung Europa würde noch eifriger gebaut. 

Und sie wird eben um so massiver, je nationaler die Asylpolitiken werden.

Das ist das fatale an nationaler Asylpolitik in einem gemeinsamen Europa: Sie ist am Ende maximal restriktiv. 

Nur eine europäische Asylpolitik kann dieses Race to the bottom beenden. Die Versuche sind zaghaft. Die Umsetzung weiter mangelhaft. Und der Trend des Rechtspopulismus’ in fast ganz Europa treibt die Politik aktuell in die gegensätzliche Richtung. Nationale Politik vor europäischer. 

Manche sagen, die unzureichenden europäischen Asylregeln, beziehungsweise deren unzureichende Umsetzung, hätten den Rechtspopulismus erst so stark gemacht. Ich gehöre zu denen. Aber Henne-Ei-Debatten helfen nicht, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Es braucht Lösungen. Die deutsche Asylpolitik dadurch abzuschaffen, dass man alle Anrainerstaaten zu sicheren Ländern erklärt und die Grenzen dicht macht, ist keine. Jedenfalls keine, die Flüchtenden heute hilft. Mittelfristig würde vielleicht der Druck auf die andere EU-Staaten steigen, sich stärker für eine funktionierende europäische Lösung stark zu machen. Einen möglichen Erfolg würden viele Fliehende nicht mehr erleben. 

3 thoughts on “Beenden wir jetzt die Idee der offenen Gesellschaft?

  1. Ich kann dem anonymen Vorkommentator inhaltlich nur zustimmen.

    Es geht doch gar nicht mehr um politisches Asyl, sondern um klassische Einwanderung. Und die Frage, ob diese in unseren Sozialstaat unbegrenzt möglich sein soll. Da ebenso gutmeinende wie Anreize ignorierende Richter jedem Zuwanderer die deutschen Sozialleistungen angedeihen lassen, würde es irgendwann heißen: Unbegrenzte Aufnahme oder Sozialstaat. Theorie der Clubs.

    Wir haben uns systematisch (Überforderung der Behörden, Rechtsprechung, grüne Multikulti-Träume) alle Möglichkeiten verbaut, unberechtigt im Land befindliche Einwanderer wieder zurückzuschicken. Dann erscheinen Push-Backs als die einzige Lösung, obwohl das – insofern haben Sie einen Punkt – das Problem zunächst nur auf die anderen Länder abwälzt. Aber diese sehen selbst, dass der Druck auf ihre Grenzen vor allem durch den Magneten Deutschland ausgelöst wird.

    Das individuelle Recht auf Asyl ist eine deutsche Besonderheit, und in Verbindung mit einer überforderten und in ihren Abläufen altertümliche Verwaltung und Justiz faktisch eine Aufenthaltsgarantie.

    Wollen wir das Individualrecht nicht abschaffen, müssten wir in Deutschland selbst dafür sorgen, dass Asylanträge zügig und rechtsgültig beschieden werden, und dass eine Ablehnung zur Ausweisung führt. Das wäre allerdings eine Monsteraufgabe, die nicht nur zahlreicher Gesetzesänderungen, sondern auch einer in dieser Hinsicht unnachgiebigen Außenpolitik bedürfte. Mit den wirklich Asylberechtigten sollte das Land zurechtkommen.

    Einer Schutzbedürftigkeit über das Asyl hinaus könnte über Kontingente begegnet werden. Am UN-Resettlement nimmt Deutschland ja schon Teil, allerdings zusätzlich zum sowieso offenen Kanal. Durch Kontingente ließe sich aber auch die fatale Schieflage bei der Zusammensetzung der Aufgenommenen begegnen: mehr Familien statt fast nur junge Männer.

    Und last but not least muss die Einwanderung von Fachkräften durch wiederum(!) Abschaffung bürokratischer Hürden und überkommener Kartellgesetze (Ausbildungsanerkennung) gefördert werden. Ich würde sogar Englisch als zweite Behördensprache gutheißen, um eine wichtige Klippe zu umschiffen.

    Der Illusion, dass die Einwanderung sich praktisch wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht, indem die Migranten auch genau für die Masse an Psychologen, Sozialarbeitern und Polizisten sorgen, die es bräuchte, um ein Scheitern von Integration möglichst zu vermeiden, sollten wir nicht anhängen.

    Früher hat die Politik alles dafür getan, die Problematik nicht zu thematisieren. Einige versuchen es immer noch. Aber inzwischen ist man dazu übergegangen, die Problematik zwar einzugestehen, aber zugleich Hilflosigkeit zu konstatieren: “Ist nunmal so, aber leider, leider, können wir da gar nichts machen wegen XY.” Was auf eine Selbstabschaffung hinaus läuft. Kein Wunder, dass Parteien Oberwasser gewinnen, die Handeln versprechen. Oder sind wir so naiv, dass wir glauben, auf Dauer würde man Leute wählen, die eingestehen, dass sie bei einem brennenden Problem wirklich nichts Wirksames unternehmen können? Gesetze ändern, Exekutive Handeln ermöglichen, Vereinbarungen schließen – das ist der Job der Politik. Nicht Showeinlagen wie die Abschiebung nach Afghanistan vor einer Wahl.

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  2. Ich schätze Ihre Artikel fast immer. Aber dieser pseudodramatische hier? Und noch dazu am eigentlichen Thema vorbei. Das können Sie besser.

    Ich mache mal den advocatus diaboli.

    Pseudodramatisch.
    Über 30 Jahren nach Ergänzung des Grundrechts auf Asyl, GG 16a, würde durch dessen Anwendung also hier und heute das Grundrecht auf Asyl beendet?

    Tatsächlich würden push backs an Deutschlands Grenzen lediglich die Wahlmöglichkeit des einzelnen Migranten einschränken, aus einem sicheren Land in ein anders sicheres Land weiterzureisen. Nicht Hilfsbereitschaft für die Leidenden dieser Welt sondern erschlichene Hilfe hätte ein Ende.

    Eigentliches Thema ist der bestehende Kontrollverlust.
    Dass ungewünschte Zuwanderung erfolgt – über sichere Länder. D.h. es geht für die ganz große Mehrheit der Asylbewerber nicht um politische Sicherheit sondern um wirtschaftliche Gründe.
    Und dass kaum eine Möglichkeit besteht bzw. umsetzbar ist, die nach geltendem Recht unberechtigt anwesenden Personen wieder los zu werden.

    Randbemerkung:
    Diskussionsfehler in nahezu allen Diskussionen zu Migration – auch in diesem Artikel, welcher nur auf Fliehende abhebt – ist die fehlende Differenzierung zwischen gewünschter Migration (Fachkräfte), politisch Verfolgten sowie unberechtigter Migration. Denn ohne massenweise unberechtige Migration gäbe es diese Diskussion überhaupt nicht.

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