Der Mann vor meiner Haustür

Es gibt einen Park ganz in der Nähe meiner Wohnung im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, durch den ich fast täglich renne, aber über seinen Namen hatte ich mir bisher noch kaum Gedanken gemacht. Obwohl ein recht gigantisches Denkmal den Namensgeber des Parks “ziert”: Ernst Thälmann.

Thälmann war rechte Hand Stalins in Deutschland. Er bekämpfte die Demokratie der Weimarer Republik, etwa mit dem Rote Frontkämpferbund, den er anführte. Dieser Frontkämpferbund war der paramilitärischen Verband der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), in der Thälmann den ab Mitte der 1920er-Jahre beginnenden Prozess der “Stalinisierung” der KPD und damit die Säuberungen innerhalb der Partei prägte.

Ja, Thälmann war auch ein Feind Hitlers (Thälmann wurde 1933 verhaftet und starb 1944 im Gefängnis, ohne jemals einen Gerichtsprozess bekommen zu haben; genauer gesagt wurde er im August 1944, nach über elf Jahren Einzelhaft, auf direkten Befehl Hitlers erschossen). Aber Thälmann steht eben auch und nicht zuletzt für den Kampf gegen die Demokratie und den Versuch der Errichtung eines kommunistischen Regimes.

Die DDR-Führung hatte Thälmann zum Helden geformt. Sie erzeugte einen Thälmann-Kult, den sie zur eigenen Legitimierung nutzte: Thälmanns Widerstand gegen das Nazi-Regime wurde als Kampf der Arbeiterklasse für die Befreiung ausgelegt, aus dem die DDR hervorging.

Der Thälmann-Mythos durchzog die gesamte unterdrückte DDR-Gesellschaft. Kitas hießen so, Straßen, zu Geburts- und Todestag gab es jährlich Gedenkfeiern, und die Massenorganisation für Kinder hieß “Pionierorganisation Ernst Thälmann”.

Wie viel Aufarbeitung über die Person Ernst Thälmann hat seit dem Ende der DDR stattgefunden? Wie viele Bürger:innen der ehemaligen DDR wissen, wer der Mann auf dem Sockel in dem Park wirklich war? Und: Ist es eine gute Idee, dass dieser Park, 1986 von der DDR-Staatschef Erich Honecker eingeweiht, heute noch so heißt?

Eine Freundin hat mir neulich erzählt, wie es ihrem Geburtsland Südafrika gelungen ist, den Apartheidstaat in eine Demokratie zu verwandeln, ohne, dass sich beim Wechsel Wut und Rache gegen die Weißen Unterdrücker:innen grausam Bahn brach. Man habe eine Form der Wiederherstellung von Gerechtigkeit gefunden, so sagte meine Freundin, ohne das Blut geflossen sei. Sehr viele Weiße hätten sich nämlich öffentlich ihrer Taten bekannt, diese gereut. Dadurch sei in der Gesellschaft ein Klima entstanden, die Vergangenheit Vergangenheit sein lassen und nach vorne schauen zu können. Und natürlich sei auch die Integrationsfigur Nelson Mandela entscheidend gewesen, der vorgelebt hatte, dass man verzeihen kann, selbst wenn einem kaum beschreibbare Ungerechtigkeit widerfahren ist.

Auch die DDR-Diktatur ging unblutig zu Ende. Aber daraus entstand keine gemeinsam, neu geschaffener Staat. Die DDR wurde – mindestens rechtlich betrachtet – Teil der BRD. Die Aufarbeitung der Unrechtsgeschichte der DDR wurde nach gesamtdeutschen Recht und nicht selten mit westdeutschen Richtern vollzogen. Die Aufarbeitung fand nicht im Inneren statt, als Gemeinschaft derer, die Leid sowohl gebracht als auch erfahren haben.

Ich vermute, dass deshalb noch die Ernst-Thälmann-Statue im Park steht und dass der Park deshalb nach “der Wende” nicht umbenannt wurde. Wo das Neue von außen kommt (und nicht nur Gutes bringt, man denke allein an die hohe Arbeitslosigkeit nach 1990), wird die eigene Geschichte schöngefärbt. Und wo die Zukunft unsicher ist, wird der Blick zurückgerichtet, und dieser Blick zurück soll Wärme geben, gegen die Kälte der Gegenwart.

Das Problem dabei: Demokratie braucht Gerechtigkeit. Das Unrecht der Vergangenheit muss benannt werden. Und die Opfer müssen darüber entscheiden dürfen, wie diese Gerechtigkeit aussehen soll. Sonst entsteht aus alter Ungerechtigkeit neue Ungerechtigkeit. Und diese Aufarbeitung braucht es auch, um zu sehen wie es wirklich war. Aufarbeitung als Aufklärung. Um Fehler der Vergangenheit nicht in der Zukunft zu wiederholen. Die verbreiteten Sympathien für den russischen Diktator Putin bei den Menschen der ehemaligen DDR zeigen, dass dies nur bedingt gelungen ist. Eigentlich müsste es umgekehrt sein. Die Unterstützung bei den ehemaligen DDR-Bürger:innen besonders gering. Weil sie erfahren haben, was es heißt, unter der Knute russischer Diktatur zu leben. Es ist nicht so. Weil diese Menschen sich teilweise eine wärmende Vergangenheit zurecht gelegt haben. Vielleicht zurecht legen mussten. Deswegen ist der Park vor meiner Haustür noch immer nach einem Feind der Demokratie benannt.

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