An der Antwort auf folgende Frage entscheidet sich möglicherweise die Geopolitik des 21. Jahrhunderts: Geht autoritäre Herrschaft und Marktwirtschaft zusammen? Ohne ökonomische Potenz ist geopolitische Dominanz nicht möglich. Der Wohlstand der Marktwirtschaft schafft diese Voraussetzung. Ist freie Marktwirtschaft und staatliche Unterdrückung auf Dauer vereinbar, dann müssen wir uns darauf einstellen, dass Diktaturen die Weltengeschicke der Zukunft stärker mitbestimmen werden als es den meisten lieb ist.
Der Blick auf die Gegenwart und China scheint die oben gestellte Frage mit einem Ja zu beantworten. Warum auch nicht, könnte man sagen. Die Kombination autoritärer Herrschaft und Marktwirtschaft macht aus Sicht der Machthabenden Sinn. Wohlstand, der infolge der Marktwirtschaft erwächst, stützt die Legitimation der Herrschenden. Es ist keine verwegene These zu behaupten, dass Wladimir Putin sich auch deswegen so lange an der Macht halten konnte, weil er die Russ:innen aus einem tiefen wirtschaftlichen Tal geführt hat.
Geht aber autoritäre Herrschaft auch langfristig mit freier Marktwirtschaft zusammen?
Theoretisch jedenfalls nicht. Demokratie und Marktwirtschaft haben den gleichen philosophischen Unterbau. Der besteht darin, dass jeder Mensch selbstbestimmt und damit in Freiheit leben sollte. Jede und jeder entscheiden für sich, welche Produkte und Dienstleistungen gekauft und angeboten (Markt) und welchen Regeln zugestimmt wird (Staat). Dabei gilt: Er und sie tuen dies stets aus seinem eigenen Interesse heraus (was nicht gleichbedeutend mit Egoismus ist).
Demokratie und Marktwirtschaft basieren also auf dem gleichen Menschenbild. Der Mensch als selbstbestimmtes Wesen, das seinen Interessen folgt.
Um diesen Interessen folgen zu können, braucht es die kollektive Selbstbindung. Wir stimmen also Regeln zu, die uns zwar auf der einen Seite beschränken, die uns aber helfen, wenn wir uns darauf verlassen können, dass sich alle an diese Regeln halten. Das Strafgesetzbuch droht jedem Einzelnen mit Strafe, aber es bietet eben auch Schutz, vor dem Unheil, das andere einem zufügen können.
Teil dieser kollektiven Selbstbindung sind die Regeln der Marktwirtschaft. Ohne sie wäre wirtschaftlicher Austausch kaum denkbar. Der Schutz des Eigentums macht es eben erst möglich, dass Eigentum gehandelt werden kann, um nur ein Beispiel zu nennen.
Das Problem: Die theoretischen Gedanken helfen in der Praxis wenig. Wenn die Marktwirtschaft Folge selbstbestimmten Handelns ist, die Lebenswirklichkeit aber zeigt, dass Marktwirtschaft und autoritäre Herrschaft nicht nur in der Realität gemeinsam vorkommt, sondern dass das Ergebnis der Markwirtschaft selbst, der Wohlstand, autoritären Regimen Legitimität und Macht verleiht: müssen wir dann nicht die Hoffnung begraben, dass Demokratie und Marktwirtschaft auch in der Praxis die selbstverständliche Gesellschaftsform ist?
Nein, müssen wir nicht. Denn der Markt stützt, ob seiner Erfolge, zwar die Herrschenden, aber er bedroht sie zugleich.
Aus zwei Gründen.
Erstens schafft Wohlstand ökonomische Macht und bedroht und reguliert damit die politische. Das erfolgreiche Unternehmen, das mit seinen Produkten und Dienstleistungen Herrschende und Volk beliefert, schafft durch Abhängigkeiten Spielräume der Einflussnahme. Übernehmen die Herrschenden darauf die Kontrolle beim Unternehmen, bringt der Wettbewerb neue Akteure hervor, welche die Position des Platzhirschen streitig macht.
Die herrschende Klasse steht folglich mit dem Kern der Marktwirtschaft, dem Wettbewerb, dauerhaft auf Kriegsfuß. Lässt sie ihn zu, bedroht er ihre Macht, schafft sie den Wettbewerb ab, verringert sich der Wohlstand, was ebenfalls die Machthabenden angreifbar macht.
Zweitens: Marktwirtschaft macht Unterdrückung offensichtlich.
Warum darf ich mir aussuchen, welches Handy ich kaufe, welche Ausbildung ich beginne, ob ich ein Unternehmen gründe, aber bei allen gesellschaftlichen und gesetzlichen Regelungen habe ich kein Mitspracherecht? Noch schlimmer, habe ich andere Ansichten als die Herrschaftsmeinung werde ich drangsaliert, degradiert, bedroht, sanktioniert, meines Wohlstands und meiner Freiheit beraubt.
Ja, Not und Elend sind die größten Treiber von Massenprotesten und Umstürzen (das ist auch sehr verständlich), aber die Freiheiten innerhalb wirtschaftlicher Aktivitäten schaffen eben auch den Kontrast zu jenem anderen Teil gesellschaftlichen Zusammenlebens, wo es diese Freiheiten nicht gibt.
Fazit: Dass Marktwirtschaften innerhalb autoritärer Systeme diese auf Dauer zum Einsturz bringen, darf man als zwingende Kausalität nicht annehmen. Begründete Hoffnung haben darf man schon. Weil eben die Marktwirtschaft aus der Demokratie hervorgeht. Und in einem System, indem sich die Menschen ihre Regeln nicht selbstbestimmt geben, bleibt die Marktwirtschaft ein Fremdkörper, ein Versuch der Machthabenden über wirtschaftlichen Erfolg ihre Macht zu sichern. Der Marktwirtschaft aber wohnt die Freiheit inne. Und deswegen holen sich die Herrschenden mit der Marktwirtschaft auch die für sie gefährliche Saat der Freiheit in ihr Reich. Die wächst und gedeiht dort in aller Regel. Wird es den Herrschenden zu viel, beschneiden sie diese. Sie wächst erneut und sie wächst weiter. Für die autoritären Machthabenden kann die Marktwirtschaft dann wie wild wucherndes Unkraut vorkommen, dabei blüht und gedeiht sie nur ganz wunderbar. – Und im besten Fall werden die Herrschenden diesem wundervoll sprießenden “Unkraut” früher oder später nicht mehr Herr.