Ich hatte mich vorbereitet. Über Heiner Müller bei Wikipedia und Der ZEIT gelesen (Müller, 1987: “Arbeitslosigkeit, ökonomische Schwierigkeiten, die Probleme mit der Computerisierung, das alles ist doch nicht lösbar ohne eine globale kommunistische Perspektive.”). Ich hatte mir also schon gedacht, dass die Freunde der Marktwirtschaft es an diesem Abend nicht ins Deutsche Theater Berlin zieht. Ich war vorbereitet und wurde dennoch überrascht. In der zehnten Ausgabe des Müller-Salons wurde “Eldorado” (Deutschland/Schweiz 2018, 92 min.) gezeigt. Ein Film des Schweizers Markus Imhoof (geb. 1941 in Winterthur, seit 2003 in Berlin).
Der Film dokumentiert die Flucht über das Mittelmeer. Imhoof war unter anderem zehn Tage an Bord eines Schiffes der italienischen Marine. Ein bewegender Film. Auch weil Imhoof die bisweilen erschütternde Realität mit seiner Erinnerung verknüpft: Die Schweiz ist das neutrale Land inmitten des Zweiten Weltkriegs und Markus Imhoofs Mutter wählt am Güterbahnhof ein italienisches Flüchtlingskind aus, um es aufzupäppeln. Das Mädchen heißt Giovanna – und verändert seinen Blick auf die Welt. Im Film werden Briefe eingeblendet, Fotos gezeigt. Die Suche nach dem besseren Leben in einem anderen Land hat es immer gegeben, so die Botschaft. Und sie war oft mit unendlichem Leid und übergroßen Hoffnungen verbunden.
Doch Imhoof hat keine Reportage gedreht. Er hat ein politisches Statement verfasst. Am deutlichsten wird dies am Ende des Films: Die Erde wird aus Weltall-Sicht gezeigt und dabei Steve Jobs mit seinen angeblich letzten Worten auf dem Sterbebett zitiert. Er soll sinngemäß gesagt haben, dass Reichtum am Ende nicht zähle; dass uns zum Schluss nur die Erinnerungen blieben, die auf Liebe basierten.
Mal abgesehen davon, dass Jobs dies vermutlich so nie gesagt hat, machte mich der Schluss doch einigermaßen fassungslos. 90 Minuten berichtet Imhoof vom verzweifelten Kampf für ein besseres Leben, um ihn dann mit der Botschaft enden zu lassen, dass Wohlstand nicht so wichtig sei. Ist es vielleicht möglich, dass einen solchen Schluss nur jene denken können, für die unser Wohlstand zur Selbstverständlichkeit geworden ist?
Ich vermute allerdings, Imhoof ist dieser Zusammenhang gar nicht bewusst gewesen, er hat Jobs aus einem anderen Grund zitiert. Er will uns darauf hinweisen, dass es sinnvoll sein kann, von unserem Wohlstand mehr abzugeben, da er am Ende nicht so wichtig sei, und da es so viele Menschen gibt, denen damit geholfen werden könnte.
Die Vermutung hat seine Begründung. Imhoof war gestern auch anwesend. Er diskutierte nach dem Film mit Heike Makatsch (unter anderem Botschafterin der Entwicklungshilfsorganisation Oxfam). Wenn ich ihn richtig verstanden habe, verficht Imhoof die These, dass die reichen Länder vor allem auf Kosten der armen leben und sich deshalb so viele Menschen aufmachten, zu uns zu kommen, um an unserem Wohlstand teilzuhaben. Und weil wir die Verursacher des weltweiten Leides seien, gäbe es eine doppelte moralische Verpflichtung zu helfen.
Mein Eindruck: Diese These hat breiteste Unterstützung an diesem Abend. Marktwirtschaft (im Müller-Salon freilich “Kapitalismus” genannt) als Hauptursache der Migrationsbewegung. Gepaart mit fehlender Menschlichkeit (vermutlich auch eine Folge des Kapitalismus) entstünde millionenfaches Flüchtlingsleid.
Auf die Idee, dass es vielleicht umgekehrt sein könnte, kommt vermutlich keiner. Dass es gerade das Fehlen von Marktwirtschaft sein könnte, welche das Elend verursacht.
Denn kein Wort fällt an diesem Abend über nicht vorhandene Institutionen, ohne die keine Rechtsstaatlichkeit entsteht, welche die Basis für Wohlstand jeden Landes sind. Kein Satz darüber, dass der Handel in der Regel kein Elend bringt, sondern Wohlstand; dass mit zunehmenden Austauschbeziehungen der Wohlstand der beteiligten Ländern steigt. Dass demnach die Staaten der EU nicht nur wegen der vielen Flüchtenden kein Interesse an armen Ländern haben. Es stimmt zwar: Die Ausbeutung eines Landes kann ein anderes reicher machen. Noch reicher wird es allerdings durch freiwilligen Tausch.
Diese Erkenntnis verhindert Kriege, sie setzt sich durch. Nicht bei der Veranstaltung der Internationale Heiner Müller Gesellschaft. Dort ist die Schuldfrage vermutlich schon seit Jahren geklärt. Von den Betroffenheitsstühlen wird das Elend der Welt in Augenschein genommen, nicht um zu weinen, sondern um sich zu bestätigen. Man hat sich eingerichtet in der eigenen Verantwortungslosigkeit. Schuld sind die anderen. Die falsche Politik, die mächtige Industrie.
Wie würden sie wohl aus allen Wolken fallen, wenn sich herausstellen würde, dass die Sache komplexer ist? Nicht wohl sortiert in schwarz und weiß, in gut und böse.
Was wenn sich plötzlich zeigen würde, dass mehr Rettungsschiffe im Mittelmeer tatsächlich zu mehr Toten führen würde, weil mehr Menschen die Überfahrt wagen, weil Schlepper die Rettung auf hoher See in ihr Geschäftsmodell einpreisen? Was wäre, wenn man die humanitärste aller Rettungsmöglichkeiten zuließe? Die Flucht per Flugzeug. So dass nicht mehr die Stärksten und nicht ganz so Armen (die Flucht über das Mittelmeer kostet mehrere tausend Euro) es schaffen könnten, sondern die fast ärmsten Armen; Alte, Kranke, Kinder?
Für 300 Euro könnten die Menschen dem Elend entkommen. Die Fluggesellschaften würden gute Geschäfte machen, die Flugzeuge wären stets ausgebucht. Wie aber würden wir damit umgehen, dass wir irgendwann darüber nachdenken müssten, ab welchen Flieger wir sagen „Ihr nicht mehr, ihr dürft nicht mehr rein“? Was wäre, wenn die Konsequenzen einer solchen humanen Flüchtlingspolitik bei den Zuschauern im Deutschen Theater Berlin wirklich ankämen?
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One thought on “Wer braucht schon Wohlstand? – Ein Abend bei der Heiner-Müller-Gesellschaft”