Auf der einen Seite: Christian Lindner will seine gerade neu auferstandene FDP nicht gleich wieder in der nächsten Regierung versenken. Man kann das verstehen. Eine Koalition mit CDU, CSU und den Grünen könnte die Freien Demokraten verschleißen. Am Ende der Legislaturperiode wäre vielleicht wieder mit dem Finger auf die FDP gezeigt worden, wären alle neuen Gesetze, die nicht den Geist des Liberalismus atmen, als Versagen dieser kleinen Partei interpretiert worden. Wir haben den süßen Verlockungen der Macht widerstanden – das wird das politische Credo und Pfund sein, mit dem Lindner im anstehenden Wahlkampf und/oder in der Opposition punkten will.
Auf der anderen Seite: Christian Lindner geht dem Risiko, das aus einer Regierungsbeteiligung entstehen würde, aus dem Weg, indem er ein noch größeres eingeht, den des radikalen Umbruchs durch Neuwahlen. In der Hoffnung, selbst als strahlende neue deutsche Hoffnung am politischen Himmel hervorzugehen.
So er diese Strategie verfolgt: Worauf gründet sich diese Hoffnung? Warum sollte man eine Partei wählen, die nachweislich nicht regierungswillig oder -fähig ist? Und selbst wenn die FDP bei Neuwahlen ähnlich stark bleibt, was macht Lindner dann? Die anderen Sondierungsparteien gehen mit ihrem etablierten Personal vermutlich ebenfalls nicht gestärkt in Neuwahlen. Und die Alternative ist für Lindner ebenfalls wenig gewinnbringend. Wenn nämlich Teile des bisherigen Personals (Merkel, Seehofer) den Weg für einen Neuanfang frei machen (müssen). Der bayrische Selbstbehauptungswillen in Berlin wird mit Markus Söder nicht kleiner werden. Und eine CDU ohne Angela Merkel ist was? Wie will die FDP das Land verändern? Mit Ursula von der Leyen vielleicht?
Die Gefahr ist groß, dass bei Neuwahlen jene gewinnen, die nicht sondiert haben: die AfD und die SPD. Letztere Partei zumindest dann, wenn es ihr gelingt, in der Kürze der Zeit einen Führungswechsel hin zu bekommen – hin zu Andrea Nahles. Dann wäre die SPD plötzlich wieder eine echte Alternative.
Christian Lindner spielt also ein riskantes Spiel. Man könnte das mutig nennen, eine langfristige Strategie. Er glaubt vielleicht, dass er seinen Verhandlungspartnern in der Parlamentarischen Gesellschaft überlegen war, weil er die politische Zukunft noch vor sich hat. Mindestens am Tag nach dem Abbruch der Verhandlungen scheint das wie Hybris.
Eine gute Analyse. Der Vorteil der FDP ist in der Tat, dass sie ihre personelle Erneuerung schon hinter sich hat.
Bei den letzten Wahlen haben Politiker wie Schulz, Merkel, Seehofer und Stegner massive Verluste zu verantworten gehabt. Trotzdem hat keiner dieser Politiker auch nur den Hauch von Verantwortung übernommen und ist zurückgetreten. In Amerika ist das undenkbar. Ein Loser ist ein Loser und muss umgehend zurücktreten. Alles andere ist absurd.
Was haben Wahlen überhaupt noch für eine Bedeutung, wenn die Verlierer nicht abtreten und einfach so lange weiter wählen lassen, in der Hoffnung, dass der Mangel an Alternativen sie irgendwann doch noch nach oben spülen muss, weil nur noch Loser antreten? Das hat doch nichts mehr mit Demokratie zu tun, das ist nur noch eine Farce.
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Aber die SPD könnte profitieren? Da ist Ihre Argumentation nicht schlüssig. Die FDP kann immerhin darauf verweisen, dass sie es versucht habe, am Ende aber die inhaltlichen Differenzen zu groß waren. Die SPD hingegen hat ausschließlich zum Wohle der Partei gehandelt, und zwar bereits Minuten nach Schließung der Wahllokale.
Auch wenn das nach 12 Jahren Merkel blasphemisch klingen mag: Regieren ist kein Selbstzweck. Dass die FDP es zu einem gemacht habe, hat man der Partei jahrelang vorgehalten, bis sie in Konsequenz aus dem Bundestag flog. Dass die FDP jetzt darauf besteht, in einer Regierung erkennbar eigene Positionen wiederzufinden, ist auch aus Sicht ihrer Wähler nur konsequent, denn fürs Pöstchensammeln allein wählt keiner. Die anderen Verhandlungspartner haben die FDP von vornherein nicht ernst genommen in ihrer Gewissheit, wieder die alte Umfallerpartei vor sich zu haben, der man für Ministerjobs alles zumuten kann. Fröhlich wurde das schwarz-grüne Projekt, das große Ziel Merkels und der überwältigenden Mehrheit der Medien, vorangetrieben, bei dem der FDP die Rolle des verantwortungsvollen Abnickens zufiel. Wenn sie da mitgemacht hätte, hätte sie zur nächsten Wahl gar nicht erst anzutreten brauchen.
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