Warum die Armutsquote steigt, wenn es den Menschen wirtschaftlich besser geht

Es gibt bekanntlich gute Gründe, Armut relativ zu messen. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Er bemisst sein eigenes Leben an dem der anderen, in der Regel am nahen Umfeld.  Hat er im Verhältnis zu seinem Nachbarn wenig, fühlt er dies als Mangel – selbst, wenn er, im Vergleich zu Millionen Menschen rund um den Globus, ein Leben in Wohlstand führt.

Die Armut in Deutschland nimmt zu, lautet heute die Schlagzeile: Von 2005 bis 2015 ist demnach die Armutsquote von 14,7 auf 15,7 Prozent gestiegen. Nach dieser Definition ist arm, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens (Medianeinkommen) hat. Der Median markiert dabei jenen Wert, von dem ab die Zahl der Menschen mit höherem Einkommen genauso groß ist wie die mit niedrigerem (im Unterschied zum Durchschnittseinkommen, welches alle Einkommen aufaddiert und sie durch die Zahl der Einkommensbezieher teilt, und somit nichts darüber aussagt, wie viele Menschen über oder unterhalb dieses Durchschnittseinkommens liegen).

Die Definition von relativer Armut aber hat ihre Tücken. Vor allem ist sie blind für den allgemeinen Wohlstandsanstieg. In Deutschland etwa sind die Löhne in den vergangenen Jahren recht ordentlich gestiegen (2,4 Prozent 2015, 2,5 Prozent im ersten Halbjahr 2016), die Zahl der Erwerbstätigen ist mit 43,5 Millionen auf einem Allzeithoch, und parallel dazu ist die Arbeitslosenquoten von 2005 bis heute von 11,7 auf 6,1 Prozent gesunken.

Eine vermutete Folge: Die wirtschaftlich erfreuliche Lage in Deutschland hat das Medianeinkommen stärker zunehmen lassen als die Einkommen jener Menschen, die relativ arm sind. Steigt zum Beispiel das Mediaeinkommen um 5 Prozent, dass der relativ Armen um 3 Prozent, dann nimmt per Definition die Armutsquote zu.

Dies könnte aktuell der Fall sein. Denn viele relativ Arme leben von staatlichen Transfers. Diese steigen in der Regel mindestens zeitverzögert zur anziehenden Lohnentwicklung.

Man kann das kritisieren. Man muss kritisieren, dass es weiter in Deutschland eine seit Jahren ähnlich große  Personengruppe gibt, die keinen ausreichenden Zugang zum Arbeitsmarkt findet: Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende sowie geringqualifizierte Personen. Wer diesen Menschen gesellschaftliche und berufliche Teilhabe ermöglicht, verringert wirksam die Armut in Deutschland – relativ und absolut.


Update 23. September 2016, 15:30 Uhr: Die Vermutung des kräftig gestiegenen Medianeinkommens stimmt, schreibt mir Christoph Eisenring, mit Verweis auf seinen heutigen Artikel in der NZZ, demnach betrug das Medianeinkommen 2005 736 Euro pro Monat und Person, 2015 war es 942 Euro. Rechne man die Inflation raus, bleibe immer noch ein realer Einkommensanstieg von 14 Prozent, so Eisenring.

 

Vertiefung: “Statistische Tücken: Wächst die Armut in Deutschland wirklich?” von Stefan Bauer in der Berliner Zeitung

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2 thoughts on “Warum die Armutsquote steigt, wenn es den Menschen wirtschaftlich besser geht

  1. Ich bin schon sehr gespannt auf die Veröffentlichung des nächsten Armutsberichts (2017, für 2016). Würde der Mindestlohn halten, was seine Freunde versprochen haben, müßte sich die Armutsquote ja enorm verringern – vor allem in den Gegenden, die am meisten von Armut betroffen sind.

    Warten wir mal ab. Meine Prognose: Man wird keinen meßbaren Zusammenhang feststellen.

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