Der Ernst des Lebens: Über den ersten Schultag meines Sohnes

Liebes deutsches Schulsystem,

kannst du bitte abdanken? Noch besser: einfach aufhören, still und leise, von einem auf den anderen Tag. Ohne große Worte.

Das würde für einen Tag Verwirrung schaffen. Wenn alle Schultüren in Deutschland geschlossen blieben. Aber ich bin mir sicher, das wäre nur einen einzigen Tag so.

Schon am zweiten würden die Menschen anfangen, sich selbst zu organisieren. Schüler, die sich mögen, würden sich weiter treffen. Der verschüttete Lernwunsch würde langsam wieder zu Tage kommen. Es würde weiter/wieder gelernt werden. Neue Bildungsangebote würden wie Pilze aus dem Boden schießen. Weil Lernen Freude macht. Weil Lernen ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht. Auch weil Lernen Einkommensmöglichkeiten generiert.

Was wäre das für ein Leben? Wenn wir leben und lernen dürften wie und was wir wollen!

Mein Verschwindenswunsch, deutsches Schulsystem, hat seinen Grund. Meine Einschulung (was für ein Wort!) liegt bald 40 Jahre zurück. Alles was ich von damals noch weiß, alles was ich im Laufe der Jahre gehört habe, alles was ich am ersten Schultag meines Sohnes diese Woche gesehen habe: Es hat sich nichts verändert.

Mein Sohn geht in eine staatliche Gemeinschaftsschule in Berlin, die ob seiner Reformansätze deutschlandweit Beachtung findet, gelobt wird. Der erste Schultag, genauer gesagt, das, was ich vom ersten Schultag gesehen habe, war eine bestürzende Ernüchterung.

Am vorigen Samstag, am so genannten Zuckertütenfest, hatte die Schulleiterin in der Aula vor Schülern, Eltern und Großeltern eine Loblied auf die Individualität des Menschen gesungen und auf die hohe Motivation der Lehrer (heißen hier “Lernbegleiter”) hingewiesen und wie sehr diese sich auf die neuen Schüler freuen würden, und sie hat ihre Schule gelobt.

Der erste Praxistest am ersten Schultag hat die Worte als Worthülsen, die Rede als Sonntagsrede entlarvt. Ich urteile zu früh? Ja, vielleicht. Es muss sein. Es hilft gegen die Wut.

So war der Beginn des ersten Schultags aus meiner Sicht: Eine einzige Lehrerin kümmert sich um 27 weitgehend zur gleichen Zeit ankommende Kinder, plus deren Eltern. Letzteren war darüber hinaus schriftlich von der Schule aufgetragen worden, am ersten Schultag diverse Unterlagen mitzubringen und abzugeben. Die Szenerie war folglich einigermaßen chaotisch. Dazwischen mein ängstlicher, weinender Sohn, der sich dann an einen, seinen neuen Platz im Klassenzimmer setzen sollte, was er auch tat, seine Eltern im Türrahmen verharrend, weil sie die Schwelle zum Klassenzimmer nicht überschreiten durften, aber warten mussten, weil sie der Lehrerin noch Unterlagen geben sollten.

Als wäre der erste Schultag meines Sohnes auch der erste Schultag der Schule gewesen! Als hätte man sich noch nie Gedanken über diesen Tag gemacht. Hätte machen können.

Wie oft hat die Schule diese Situation schon gehabt? Dieses erste Mal? Diesen ersten Eindruck vermittelt, der für 6-Jährige vermutlich prägend sein kann, weil alle Antennen auf höchstem Empfang sind, weil sie genau wissen, dass sie dort von nun an täglich hingehen werden. Wie bestimmt haben sich die Mitarbeiter der Schule nach jeder neuen Erfahrung zusammen gesetzt und überlegt, was man beim nächsten Mal besser machen kann? Und wie häufig sind den Überlegungen Taten gefolgt?

Und wenn nicht: Warum nicht?

Würden so neue Mitarbeiter an ihrem ersten Arbeitstag im Unternehmen “willkommen geheißen”, es wäre ein Fall für die Arbeitsgerichte.

Ok, ich übertreibe. Ich bin, wie gesagt, wütend. Auf den Umgang mit meinem Kind. Auf das System, das dahinter steckt. Das eben keinen Anreiz hat, die Dinge zu ändern. Zu bessern.

Keine Revolutionen wären gefragt. Keine neue Schulreform alle paar Jahre, aufgezwängt von Schulämtern und der Politik. Sondern Verbesserungen im Kleinen, Stück für Stück. An jeder Schule individuell. Die Schulen könnten von den gemachten Lernerfahrungen gegenseitig lernen. Sie könnten es nicht nur, sie würden es auch. Aus vielen kleinen Schritten würde ein neuer, noch unbekannter Weg werden. Hin zu einer Schule mit den Schülern im Mittelpunkt.

Doch diese vielen kleinen Verbesserungen fehlen. Weil es auch ohne diese geht. Weil die Schüler trotzdem in die Schule kommen. Weil es die Schulpflicht gibt. Vor allem aber, weil es weiter an Alternativen fehlt. Der Staat bleibt mit weitem Abstand der Bildungsanbieter Nummer eins. Er hält sich mit allerlei Beschränkungen und Fallstricken für private Konkurrenz diese vom Leib. Ich will das nicht mehr. Seit gestern mehr denn je.

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3 thoughts on “Der Ernst des Lebens: Über den ersten Schultag meines Sohnes

  1. Ein Jahr war ich selbst auf einer Privatschule. Keine Elite Schule! Die Kosten betrugen rund 230€ im Monat und es war das beste Schuljahr, das ich je durchlebt habe. Im Schnitt waren wir ca. 15 Schüler pro Klasse und das führte automatisch dazu, dass individuell benotet werden konnte. Ich habe in meinem Leben zig mal eine 6 bekommen, weil ich z.B. keine Hefter geführt habe. Auf solche Bewertungsinstrumente mussten die Lehrer hier nicht zurück greifen, weil sie ihre Schüler kannten. Nun sind wohl selbst “private” Schulen durch die Bürokratie halb staatlich, aber es ist ein Unterschied wie zwischen Himmel und Hölle. Für mich ist jedenfalls klar, wenn ich Kinder bekomme stecke ich sie in einen privaten Kindergarten und eine Privatschule.
    Schöner Beitrag!

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  2. Es gibt wohl wenig Dinge, die einem Ökonomen so intuitiv richtig erscheinen wie mehr Autonomie für die Schulen. Jedenfalls ist dieser Wunsch auch bei den guten Lehrern und Schulleitern sehr ausgeprägt, wie ich aufgrund privater Verbindung weiß, aber wenn ich das mir Anvertraute richtig einordne, können wir 90% des Übels der Kultusbürokratie anlasten. Die wäre nämlich so gut wie überflüssig, könnten Schulen selbst entscheiden, mit welchen Leuten und unter welchen Rahmenbedingungen sie Lernen ermöglichen wollen.

    Ich sage bewusst “ermöglichen”, denn wenn nicht verhindert wird, wäre das schon viel.

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  3. Private Konkurrenz gibt es in Berlin schon relativ viel. Es ist vielleicht nicht schlecht, wenn Sie ihr Kind auf eine staatliche Schule schicken. Dann kommt es mit der traurigen Realität in Kontakt. Die Privatschulkinder und -eltern sind bei gewissen Themenfelden immer sehr heuchlerisch und weltfremd.

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