
Falls ein Ökonom gerade an einem Lehrbuch über politische Ökonomie arbeitet, es gäbe da ein treffendes Beispiel. Politics in a nutshell, sozusagen. Wie Politik im Kern funktioniert. Dass nämlich das Geschäftsmodell von Politik im Wesentlichen darin besteht, Probleme zu lösen. Der Politiker als Problemlöser.
Das Problem für den Problemlöser bisweilen: die Abwesenheit von Problemen.
Armut ist ohne Zweifel ein reales Problem. In jeder Gesellschaft. In reichen Gesellschaften ein quantitativ kleineres als in armen. Unaghängig davon gilt: Hunger, Kälte, medizinische Unterversorgung – wer arm ist, darf zu Recht auf die Hilfe der Gesellschaft hoffen. Er darf sie in einer emphatischen, barmherzigen Gesellschaft sogar einfordern. Vorausgesetzt freilich, die Gesellschaft hat genügend Mittel, um Armut zu beseitigen.
Wohlstand ist deshalb die grundlegendste Voraussetzung für Armutsbekämpfung.
Wie gesagt, ich hätte da ein Beispiel für die politische Ökonomie. Das Beispiel heißt Cansel Kiziltepe. SPD. Mitglied im Deutschen Bundestag.
Cansel Kiziltepe hat gestern folgendes getwittert:
Deutschland: 13 Mio. Menschen leben in Armut #umverteilung https://t.co/y55akbwJfC
— Cansel Kiziltepe (@CanselK) October 28, 2014
Politics in an Nutshell, auf weniger als 140 Zeichen. Ein Tweet als Lehrbuchbeispiel für zwei der wichtigsten Überlebensregeln von Politikern:
- Mache ein Problem größer als es ist (je größer das Problem, desto wichtiger der Problemlöser)!
- Biete Lösungsvorschläge an (“#Umverteilung”), die der Mehrheit intuitiv einleuchten!
zu 1.
13 Millionen Menschen leben in Armut, schreibt Cansel Kiziltepe und nennt die Quelle für den vermeintlichen Fakt, nämlich eine Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes. Dort aber ist nie von “Armut” die Rede, sondern vom “Armutsrisiko”. “16,1 Prozent der Bevölkerung oder rund 13 Millionen Menschen” seien in Deutschland “armutsgefährdet”, heißt es weiter.
Semantische Kleingeisterei zwischen “Armut” und “Armutsrisiko”? Der Kürze von Twitter geschuldet? Bestimmt nicht. Es ist mindestens ein Unterschied, wenn nicht das Gegenteil, ob jemand arm ist, oder die Gefahr besteht, dass er arm wird.
Außerdem: Das Armutsrisiko, von dem das statistische Bundesamt spricht, ist explizit ein relatives. Armut als Verhältnis zum Wohlstand in der Gesellschaft. Konkret: Wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügt, gilt demnach als “armutsgefährdet”.
Keine Frage: Es ist legitim, Armut relativ zu betrachten. So wie es legitim ist, Armut an anderen Maßstäben zu messen (Hunger, keine Wohnung, medizinische Unterversorgung, Ausschluss an gesellschaftlicher Teilhabe). Entscheidend ist, dass man den Maßstab kommuniziert. Weil sonst die Information verzerrt ist.
Betrachtet man etwa Armut relativ, dann kann Armut auch dann steigen, wenn die Haushaltseinkommen der unteren Einkommensklassen zunehmen. Nämlich dann, wenn die Einkommen in den höheren Einkommensklassen ebenfalls steigen und zwar überproportional. Die (relative) Armut nimmt dann also zu, obwohl der Wohlstand aller steigt. Armut als Wohlstandsphänomen der besonderen Art.
Zurück zur Realität: Für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren liegt der Schwellenwert zum Armutsrisiko in Deutschland aktuell bei einem Netto-Einkommen von 2056 Euro im Monat. Lebt eine solche Familie in Armut, wie es Cansel Kiziltepe suggeriert?
zu 2.
Mit dem Hashtag “Umverteilung” deutet Cansel Kiziltepe Ihren Lösungsvorschlag zur Bekämpfung des Armutsrisikos an. Wer arm ist, dem muss geholfen werden. Am besten mit Geld. Damit er nicht mehr arm ist. Das leuchtet ein. Und ist auch richtig. Aber es ist auch die Wahrheit eines Kleinkindes, das in einfachen If-Then-Kategorien denkt. Das ist nicht immer falsch – und greift doch oft zu kurz.
In Deutschland wird mehr als die Hälfte des Erwirtschafteten durch staatliche Institutionen umverteilt. Wer glaubt noch ernsthaft, dass man mit mehr Umverteilung Armut verringern könnte? Ist es nicht vielmehr so, dass der Großteil der Umverteilung von den nicht ganz Reichen zu den nicht ganz Armen fließt? Weil sich dort die relevanten Wählergruppen tummeln. Parteien werden gewählt, die Rentenerhöhungen versprechen oder mehr Elterngeld. Armut wird so nicht verhindert. Höchstens unter in Kaufnahme riesiger Streuverluste.
Helene Bubrowski hat in der gestrigen Ausgabe der FAZ (28.11.2014, nicht online) eine nahegehende Reportage über das Leben im Berliner Vollzugskrankehaus Plötzensee geschrieben. Weil die Bedingungen für das Personal so schwierig sind, können aktuell fünf Ärztestellen nicht besetzt werden. Es findet sich zu den bestehenden Konditionen niemand. Wäre dies auch so, wenn das Augenmerk der Gesellschaft stärker auf ihren Randgruppen läge? Auf Menschen, die auf der Straße leben, die psychisch Kranken, die Abhängigen, die Gestrandeten? Denen es so schlecht geht, dass sie sich politisch nicht organisieren können.
Armut gibt es in Deutschland an allen Ecken. Es sind meist kleine, dunkle Ecken. Es sind im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung wenige. Dort herrscht im Vergleich zur Gesamtbevölkerung großes Elend. Mehr Umverteilung hilft hier keinem.
Im Gegenteil. Vielleicht trägt die hohe Umverteilung zur Armut bei.
Denn hohe Abgaben (die Finanzierungsseite der Umverteilung) verringern den Anreiz, eine Arbeit aufzunehmen. Aber Arbeit verringert das Armutsrisiko erheblich. Es liegt bei Menschen mit Job bei nur 8,6 Prozent (Armutsrisiko bei Arbeitslosen: 69,3 Prozent).
Neben den hohen Sozialabgaben ab dem ersten selbst verdienten Euro sind es die ebenfalls hohen Transferentzugsraten beim Arbeitslosengeld II, die es häufig kaum lohnend machen, aus der Arbeitslosigkeit kommend, einen Job anzunehmen. Und die vermeintlich ach so tollen Minijobs verhindern, dass einem Einstieg in Arbeit der Aufstieg folgt. Weil es sich nicht lohnt, den Minijob zugusten von mehr Arbeit zu verlassen. Weil Netto nach Brutto zu wenig bleibt.
Hier könnte die Politik ansetzen, um Armut zu verhindern. Das ist nicht intuitiv, aber es würde helfen, langfristig und dauerhaft.
Überhaupt der Einstieg in Arbeit. 50.000 jungen Menschen brechen Jahr für Jahr die Schule ab. Es ist häufig der Anfang vom Ende vom finanziell sorgenfreien Leben. Wo aber sind die Politiker, die die Fehler im System suchen? Die sich gegen das Establishment von Lehrern, Schulbehörden und Bildungsministerien eine Öffentlichkeit suchen und den Kern des Problems benennen. Nämlich dass eine One-Size-Fits-All-Schulbildung eben nicht für alle taugt. Dass wir ohne Wettbewerb der Bildungseinrichtung nie jenes Bildungspotenzial entfalten, das aus jungen glücklichen Menschen, große gebildete glückliche Menschen macht. So würde das Armutsrisiko der Zukunft minimiert.
Stattdessen führt die Politik einen gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlohn ein. Als könnte man Wohlstand erzwingen. Auch das ist Klein-Kind-Politik. Wenn Löhne als zu niedrig erachtet werden, dann verbietet man sie eben. Einen Schritt weiter gedacht, hätte es den ersten nie gegeben. Denn die Politik kann vielleicht niedrige Löhne verbieten (kann sie nicht wirklich), aber sie kann nicht gebieten, dass die Firmen genügend Jobs oberhalb eines Mindestlohns anbieten. Mögliche Folge: Es gibt zu wenige Arbeitsplätze. Armut bekämpft man so nicht. Man schafft sie. Indem man den Einstieg in Arbeit verbaut und damit die Chance zum Aufstieg erst gar nicht zulässt.
Fazit: Eine Politik der Umverteilung, der Regulierung und Beschränkung (häufig durch “gut gemeinte” Politik) verhindert das Armutsrisiko nur bedingt, kann es selten beseitigen. Wer dagegen Armut als Folge verbauter Möglichkeiten sieht, der öffnet den Raum für die Armutsvermeidung. Wo Menschen mehr Chancen haben, wächst die Eigeninitiative. Niemand ist gerne abhängig. Jeder möchte autonom leben. Politik als Befähigung zum freien Leben. So könnte Armutsbekämpfung gedacht werden. Dann hätten wir auch genügend Ressourcen, um jenen umfänglich zu helfen, die vom Schicksal getroffen werden.
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Dem Grundgedanken, dass Arbeit das beste Mittel gegen Armut ist stimme ich gerne zu. Und das umso mehr umso besser die Arbeit bezahlt ist bzw. mehr in der Tasche des Arbeitenden ankommt. Insofern kann ich allen Argumenten zu Bildung, Mini-Jobs, Abgaben und Transferentzugsraten zustimmen.
Nur beim Thema Mindestlohn verstrickt sich der Autor in Widersprüche, die er nicht auflösen kann. Der Mindestlohn befähigt doch erst zu einem von Sozialleistungen unabhängigen Leben. Genau das ist doch die Forderung des Autors. Jobs, die durch den Mindestlohn wegfallen, braucht eine entwickelte Gesellschaft nicht. Stattdessen ist es dann notwendig, dass die eigene Produktivität durch Bildung steigt, durch genau die Art der individuellen Bildung, die der Autor doch so lobt.
Bisher scheint der Mechanismus zu funktionieren. Ein Jahr nach der Einführung des Mindestlohns, sind keine negativen Effenkte auf den Arbeitsmarkt sichtbar.
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Intelligente Analyse. Vielleicht interessiert zu diesem Thema auch diese Links:
http://liberalerfaschismus.wordpress.com/2012/11/19/230/ und:
http://cafeliberte.de/mindestlohn-sozialer-killer/
Grüße
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