Ich habe gestern “Die Zeit” gelesen. Mal wieder. Ich lese sie meist im Abstand von mehreren Wochen oder Monaten. Wenn ich mal wieder hoffe, dass sie mich schlauer macht und/oder unterhält.
Die Erfahrung ist seit längerem die gleiche: Meine Erwartung wird enttäuscht, tendenziell.
Mein Problem ist schnell umrissen: Mich interessieren die Inhalte nicht. So ist Zeitungslesen, könnte man sagen, man bleibt eben nur an manchen Stellen hängen. Ja genau, an manchen, das wär’s schon.
Ich habe also ein Problem mit der Wochenzeitung aus Hamburg. Die Nachfrage legt allerdings die Vermutung nahe, dass ich damit einigermaßen alleine stehe. “Die Zeit” ist eine der wenigen Zeitungen in Deutschland, deren Auflage steigt.
Vielleicht ist es Selbstüberschätzung, vielleicht trügt mein Gefühl aber auch nicht, ich würde mich jedenfalls nicht wundern, wenn sich das bald ändert.
Auf mich wirkt die Printausgabe verstaubt. Nicht die Gestaltung (vor allem die Aufbereitung in der App finde ich vorbildlich schön), sondern die Auswahl der Inhalte und die Texte.
Es sind Kleinigkeiten, die mir auffallen, die mir nicht gefallen. Hinter denen ich mehr vermute als Kleinigkeiten. Zum Beispiel Formulierungen, die aus meiner Sicht nicht mehr in die heutige Zeit passen. Zum Beispiel in den wöchentlichen Kolumnen von Harald Martenstein. Genaugenommen nicht in seinen Kolumnen (noch genauer genommen ganz explizit dort nicht), sondern im Vorspann (Warum hat die Kolumne eigentlich einen Vorspann? Steht eine Kolumne nicht für sich?). In diesem Vorspann jedenfalls wird stetig von “unserem Kolumnisten” gesprochen. Ein Besitzanspruch. Als ob dem Verlag die Autoren gehören würden (mal abgesehen davon, dass – wenn ich es Recht weiß – Harald Martenstein Redakteur beim Tagesspiegel ist).
Ein Beispiel, ein kleines nur, es gehört für mich zu einer alten Zeit. Zu einer Zeit, als der Verlag über allem stand. Weil nur über ihn publiziert werden konnte. Wo Zeitungen Meinungshoheit besaßen. Wo Redakteure dem Leser erklärten, wie die Welt ist. Und zwar ohne Zweifel. Man wusste es. Und wenn es doch Gegenstimmen gab, dann wusste man es eben besser.
Ich gebe zu: Ich bin empfindlich geworden. Wahrscheinlich weil ich es gerne anders hätte. Weil ich mir wünsche, beim Lesen einen neuen Blick auf Leben und Gesellschaft eröffnet zu bekommen.
Meine Kritik ist mehr ein Gefühl. Interesse ist schließlich subjektiv. Vielleicht lebe ich einfach in einer anderen Welt als der typische Zeit-Leser. Vielleicht ist es aber auch nicht so. Vielleicht ist die Schuld für meine Langeweile weniger bei mir als bei der Zeitung zu suchen. Vielleicht stinkt der Fisch vom Kopf. Ich habe nur wenige Indizien. Alle finden sich in der aktuellen Ausgabe, alle auf einer Seite, alle am Anfang eines Interviews (weiter bin ich nicht gekommen).
Dieser Verdacht lautet: Es ist der Chefredakteur, Giovanni di Lorenzo, himself, der die Zeitung zu dem Blatt machte, das es ist.
Die Indizienkette ist so simpel wie kurz. Di Lorenzo, ist ein Schöngeist, und in der Zeitung stehen vor allem schöngeistige Texte. Die Inhalte sind nicht frech, wenden das Blatt nicht, schauen nicht, was darunter liegt, sie denken nicht quer.
Und die Zeitung strahlt noch etwas aus, was zu meinem Bild von di Lorenzo passt: Eine gewisse Selbstverliebtheit. Eine Selbstverliebtheit, die Selbstzweifel nur bedingt zulässt. Die einen eben zu sehr auf sich selbst schauen lässt und deshalb im anderen höchstens das sieht, was man sehen möchte. So findet man das, was man finden wollte. Interessante Inhalte entstehen so selten.
Wie gesagt, es ist nur ein Verdacht, ich kenne di Lorenzo nicht persönlich. Vielleicht ist es auch unfair. Auf der anderen Seite: Ich habe mich aufgeregt, über ihn. Darüber, dass ein Aufmacher viel verspricht – und mich enttäuscht. Ein Aufmacher mit einem tollen Bild, einer alten und interessanten Frau. Thema: Es sterben die letzten Überlebenden des Holocausts, dabei gibt es doch noch so viel, was noch nicht gesagt ist.
Ich beginne also das Interview zu lesen (Screenshot unten) – und möchte gleich wieder aufhören.
Es hat sich unter Journalisten ja eingebürgert, dass sie vor epischen Interviews gerne die Situation schildern, in der dieses Interview stattfand. Oder, wie das Interview zustande kam. Oder, oder. Es geht um “Atmosphäre schaffen”. Ich verstehe das, ich finde das bisweilen auch gut. Ein Problem: Die zu interviewende Person gerät bisweilen aus dem Fokus. Manchmal steht der Interviewer selbst im Mittelpunkt. Im schlechten Fall zu unrecht, wenn es nämlich dafür eigentlich keinen Grund gibt.
Im Falle der 90jährigen Renate Lasker-Harpprecht, die zu diesem Thema noch nie interviewt wurde, empfinde ich das als mindestens unpassend. Schon im ersten Satz denkt Giovanni die Lorenzo – an sich:
“Über Renate Lasker-Harpprecht hatte ich bis dahin nur von ihrem Mann gehört, dem großen Publizisten Klaus Harprecht, der bis heute auch für die ZEIT schreibt.”
In diesem ersten Satz schafft es di Lorenzo nicht nur sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen (Hochstatus eines Chefredakteurs), sondern auch noch seine Zeitung (große Menschen schreiben für die große Zeit).
Im Vorspann gelingt es ihm außerdem wie beiläufig, auf seine Fremdsprachenkenntnisse hinzuweisen:
“Sie trinkt Kaffee, raucht, und manchmal findet sie den richtigen Ausdruck nur im Fanzösischen, Englischen und Italienischen.”
Und das Interview ist noch keine zwei Fragen alt, da bringt der Chefredakteur auch noch unter, dass vermutlich nur er dieses Interview hatte führen können. Wenn er nämlich Renate Lasker-Harpprecht fragt, ob es ihr mit 90 Jahren leichter falle, über Auschwitz zu sprechen und sie antwortet:
“Ja, aber nur mit bestimmten Personen.”
Ich weiß nicht, vielleicht habe ich mein Urteil zu schnell gefällt. Ab dieser Stelle konnte ich nicht mehr weiterlesen. Ich weiß nicht, was Frau Lasker-Harpprecht alles zu sagen hat. Eigentlich hatte es mich interessiert. Der Mittelpunktsmensch di Lorenzo hat mir das Interesse genommen.
Was ich sagen will: Für mich ist dieses Interview beispielhaft für “Die Zeit” (Print, nicht Online). Es wäre so viel möglich, doch die Zeitung steht sich mir ihrer Tollheit selbst im Weg. Alles will groß und wichtig sein. Die Zeitung, die Themen, die Schreiber. Dabei sollte das alles klein sein, nur die Inhalte groß. Ich warte jedenfalls darauf. Ich werde zurückkommen. In ein paar Wochen. Oder Monaten.
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