Wäre Europa ohne Rettungspolitik heute gerettet?

Wo stünden wir heute? Was wäre aus Europa geworden, wenn zu Beginn der Staatsschuldenkrise die europäische Notenbank EZB nicht fleißig Anleihen aufgekauft hätte? Wenn die Staaten keinen Rettungsschirm aufgespannt hätten? Keinen temporären (EFSF) zu Beginn, keinen dauerhaften (ESM) heute?

Was wäre stattdessen passiert, wenn Europa sich so verhalten hätte, wie es sich die europäischen Staaten vertraglich zugesichert hatten, nämlich, dass Staatsschulden nicht von anderen Staaten abgesichert und im Zweifel übernommen werden? Und die Europäische Zentralbank sich so verhalten hätte, wie es eine Notenbank tut, die vor allem der Sicherung der Preisstabilität verpflichtet ist?

Wäre die Krise längst vergessen? Wären die Südländer wie Griechenland und Portugal mittlerweile gesundet, weil sie zwar mit dem Euroaustritt und dem unvermeidlich folgendem Schuldenschnitt kurzfristig ihre Kreditwürdigkeit verspielt hätten? Weil sie aber, durch die abgewerteten neue Währungen, auf einen Schlag ihre Wettbewerbsfähigkeit zurückgewonnen hätten.

Oder wäre die Krise in eine dauerhafte Depression übergegangen? Weil ein Schuldenschnitt den Staaten dauerhaft den Zugang zum Kapitalmarkt verwehrt hätte, und in der Folge die niedrigeren Staatsausgaben zu einem wirtschaftlichen Kollaps der Krisenländer geführt hätten.

Fünf Ökonomen, darunter Clemens Fuest, Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung Mannheim, glauben eher an das letztere Szenario. Sie haben sich dafür ausgesprochen, die Währungsunion in ihrem bisherigen geografischen Umfang fortzuführen und vor den Gefahren eines Euroaustritts gewarnt.

“Wir halten das für den falschen Weg und plädieren dafür, die Währungsunion in ihrer jetzigen Zusammensetzung zu bewahren und ihre von Beginn an bestehenden institutionellen Mängel sowie die im Laufe der Krise entstandenen Probleme durch entschlossene Reformen zu lösen.”

Ihre Argumente gegen einen Euroaustritt, zum Beispiel Griechenlands:

  1. Der bereits oben erwähnte Zugang zum Kapitalmarkt wäre ein großes Problem. “Dies würde eine weitere Verschärfung der Arbeitslosigkeit und der wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Länder auf viele Jahre bedeuten.”
  2. Außerdem, vermuten die Ökonomen, “würden mit dem Austritt die notwendigen wirtschaftspolitischen Reformen zum Stillstand kommen.” Begründung: Die massiven Abwertungen würden wegen der damit verbundenen Realeinkommensverluste von Seiten der Lohnpolitik mit dem Versuch einer Korrektur beantwortet werden.
  3. Und drittens würde die fehlende Glaubwürdigkeit einer neue Währung und die damit verbundenen Preissteigerungen eine restriktive Zinspolitik (also hohe Zinssätze) seitens der Notenbank erfordern, was das Wirtschaftswachstum bremsen würde.

Wie gesagt: Man kann darüber nur spekulieren, wie Europa heute aussehen würde, wenn die Staaten sich nicht entschlossen hätten, sich gegenseitig zu helfen.

Welche Richtung jemand unterstützt, hängt, vermute ich, wesentlich davon ab, wir sehr man den Wirkungen von Marktmechanismen vertraut.

“Marktanhänger” fragen sich, warum Staaten, wenn sie Schulden machen möchten – wie jede Privatperson oder jedes Unternehmen auch – sich dieses Geld nicht ausschließlich von jenen holen sollen, die bereit sind, ihnen Geld zu leihen. Und warum jene, die das Geld verleihen, nicht auch das Risiko tragen sollen, das Geld nicht zurück zu bekommen. Wobei der Marktkoordinator der Zinssatz ist. Er bringt Anbieter und Nachfrager zusammen. Dem Geldverleiher zeigt der Zinssatz das Risiko eines Engagements an – und die mögliche Rendite. Den Staaten verschafft der Zinssatz den Anreiz, solide zu wirtschaften. Werden nun Staaten in Krisenzeiten (steigender Zinssatz) von anderen Staaten gerettet, geht genau dieser Anreiz verloren.

Und dabei hat die Politik sowie schon den problematischen Anreiz, auf Kosten zukünftiger Generationen Politik zu betreiben. Weil man mit Schulden Wohltaten finanzieren (und damit Wählerstimmen maximieren) und die dabei anfallenden Kosten auf spätere (Wähler-)Generationen verlagern kann.

Die Rettungspolitik berührt aber noch ein zweites Problem, eine Gerechtigkeitsfrage. Warum sollen alle (Steuerzahler) für Geld haften, worüber sie gar nicht entschieden haben, es zu verleihen? Das ist nicht nur ungerecht, sondern führt ebenfalls zu Fehlanreizen. Denn wer Geld leiht und dabei darauf vertrauen kann, es unter allen Umständen zurückzubekommen, wird tendenziell höhere Risiken eingehen.

Die Rettungspolitik verschärft also die Schuldenproblematik von beiden Seiten, von Seiten der Gläubiger und von Seiten der Schuldner.

Überhaupt die Politik: Die gesamte so genannte Rettungspolitik ist weniger das Ergebnis ökonomischer, sondern politik-ökonomischer Überlegungen. Ein Politiker, der in absehbarer Zeit wiedergewählt werden will, für den ist eben weniger wichtig, die Krise zu beenden, sondern die Krise nicht bei der nächsten Wahl ausbrechen zu lassen. Ein Problem zu verschieben, statt es (kurzfristig schmerzvoll) zu beseitigen, liegt also im Politiker-Interesse.

Vermutlich folgt die Rettungspolitik diesem Muster. Denn gewonnen hat bisher vor allem die Politik, nicht zuletzt Angela Merkel, sowie jene, die Geld gegeben hatten und sich die Ausfallkosten von der Gemeinschaft finanzieren ließen.

Letztere Gruppe war vor Beginn der Rettungsaktion eine kleine, überschaubare, mächtige. 70 Prozent des von von einer möglichen Staateninsolvenz betroffenen Kapitals finden sich im Besitz der 5 Prozent reichsten Menschen, haben Harald Lau und Bernd Lucke vorgerechnet.

Auch die Verschuldungsbeziehung der Staaten (siehe Grafik) gibt eine Vorstellung darüber, wie Rettungspolitik verteilungspolitisch wirkt (Grafik erstellt mit GED Viz). So betrugen etwa 2011 alle Forderungen von Banken in Deutschland gegenüber Griechenland, Portugal, Spanien und Italien über 1800 Milliarden Euro.

GEDVIZ-Slide-1-schulden-2011

Meine Überzeugung: Wenn ökonomische Probleme nicht mit ökonomischem Verstand gelöst werden, wenn die Rettungspolitik vor allem der Politik und den Einflussreichen hilft, wenn die Rettungspolitik auf Macht, statt auf Markt setzt, dann wird die Krise vielleicht gestreckt, verdeckt und verschoben, gelöst wird sie nicht.


Die Bertelsmann-Stiftung stellt heute das Datenvisualisierungstool GED VIZ vor. Ich durfte es vorab testen und habe es unter anderem für die Visualisierung dieses Artikels verwendet.

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