Wäre das Internet ein Mensch, die Rente würde langsam auf Sichtweite kommen. Das World Wide Web ist uns noch keine zwei Jahrzehnte ein Begriff, und unseren Alltag hat das Internet mittels Smartphone, iPad und Co. erst in den letzten Jahren durchdrungen. Doch das Internet ist ein grau melierter Herr. Geboren im Kalten Krieg. Zeugungszeitpunkt 1957.
Die Russen hatten mit der Sputnik gerade ihren ersten Satelliten hoch ins All geschossen und den Nationalstolz der Amerikaner tief getroffen. Die Antwort der USA: Die Gründung des wissenschaftlichen Instituts ARPA (Advanced Research Projects Agency). Das Ziel: Die Wiedererlangung der führenden Rolle in Wissenschaft und Technik.
Joseph Carl Robnett Licklider leitete zu jener Zeit eine kleine Forschungsgruppe beim US-Rüstungskonzern BBN. Was der 1915 geborene Licklider dort tat, hört sich nur auf den ersten Blick unspektakulär an. Er experimentierte mit einer PDP-1, ein „Minicomputer“ der Firma Digital Equipment Corporation. „Mini“ war der Computer nur im Vergleich zu anderen Rechnern. Die PDP-1 war groß wie ein Kleiderschrank, galt aber als äußerst fortschrittlich, auch weil sie im Vergleich zu den größeren Maschinen von IBM, von einer einzigen Person hochgefahren und bedient werden konnte.
Licklider und seine Forscher jedenfalls bauten die PDP-1 um, zu einem Computer, den es so noch nicht gegeben hatte. Davor waren Computer vor allem Rechenmaschinen gewesen. Lick, wie ihn seine Freunde nannten, leitete einen Paradigmenwechsel ein. Der Psychologieprofessor stellte die Beziehung zwischen Mensch und Computer in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Und es gelang ihm, mehrere Menschen an einem Computer arbeiten zulassen, indem sie sich die Rechenzeit des einzigen vorhandenen Prozessors teilten.
„Time Sharing“ nannte er diese Erfindung – und stieß damit bei Computerherstellern und dem Informatikestablishment auf taube Ohren. Die Interaktion mehrerer Menschen mit einem Computer sei viel zu aufwändig und kostspielig. Mensch und Computer passten einfach schlecht zusammen, so die gängige Meinung. Weil Computer viel schneller rechnen als Menschen denken und reagieren könnten.
Doch die Idee war in der Welt. Aus dem Computer als Rechner konnte ein Kommunikationsmittel werden. Die Geburtsstunde des Internets! Und auch wieder nicht. Denn noch mussten die kommunizierenden Personen am gleichen Ort sitzen.
1962 wechselte Licklider zur ARPA – und hatte plötzlich Macht und Mittel, seine Ideen zu verwirklichen.
1969 geht das sogenannte Apranet in Betrieb, das vier Rechenzentren miteinander verbindet, 1971 starten die Franzosen ihr eigenes Internetprogramm, aus dem mit Transmission Controll Protocol (TCP) die noch heute verwendete Sprache des Internets hervorgehen wird. 1972 entwickelt Ray Tomlinson das erste E-Mail-Programm und 1982 bietet die „Informatik-Rechner-Betriebsgruppe“ der Universität Dortmund erste Netzwerkdienste in Deutschland an.
1990 sind weltweit 300.000 Rechner mit dem Internet verbunden, heute sind es rund 700.000.000.
Das Internet im Speziellen und die Übertragung von Information mittels Technik im Allgemeinen hat mittlerweile unser Leben durchdrungen, wie keine zweite Erfindung zuvor. Auch und gerade dort, wo wir es zunächst gar nicht vermuten. Kein Brief würde mehr ankommen, keine Lebensmittellieferung ihr Ziel erreichen, kein Telefongespräch mehr geführt werden können, wenn das Internet von heute auf morgen abgeschaltet würde.
Die Koordination unseres arbeitsteiligen Lebens steht auf dem Grundpfeiler Internet. Das zeigt sich vielleicht am deutlichsten in jenem Wirtschaftszweig, der das vermeintliche Gegenteil des Internets verkörpert: der Logistik-Branche. Was die verschickt, verschiebt, verfrachtet, ist nicht virtuell, sondern greifbar, hat Gewicht und Masse, kann nicht von allen gleichzeitig genutzt werden, sondern immer nur von dem, der es gerade in der Hand besitzt. Für die Verschickung müssen LKWs, Flugzeuge und Schiffe gebaut und von Fahrern, Flug- und Schiffskapitänen um den Erdball gesteuert werden. Und davor wird in harter Arbeit Öl aus den Tiefen von Meeren und Wüsten geholt.
Teller, Tassen, Türen – so ziemlich alles, was unser Leben umgibt, ging durch die Hände der Logistik-Branche. 2,7 Millionen Menschen arbeiten alleine in Deutschland in diesem Wirtschaftszweig, die setzen jährlich über 200 Milliarden Euro um.
Die Logistik-Branche erschafft quasi unser reales Leben, während das Internet für das virtuelle sorgt. Aber beide Welten sind nicht getrennt, nicht mehr, Logistik ohne Internet ist heute nicht mehr möglich. Beide Systeme sind Netzwerke. Es wird von A über B nach C geliefert, flexibel und auf die Minute pünktlich. Mittels zuverlässiger Kommunikation ist das möglich, Kommunikation, die das Internet schafft.
Gleichzeitig hat das Internet der Logistik-Branche Aufträge entzogen. Was früher stofflich war, ist heute virtuell. Musik, muss nicht mehr als CD gekauft werden, der Film nicht auf einer Videokassette und das Buch nicht gedruckt werden.
Was es zunehmend braucht, sind Voraussetzungen: das in China produzierte iPad, der MP3-Player aus Südkorea, der Bluray-Player aus Indonesien. Ist die Hardware vor Ort, kommen die Inhalte über das Internet ins Haus. Ein Wirtschaftszweig nach dem anderen wird so vom Internet umgewälzt: die Musikbranche, die Filmindustrie, das Verlagswesen.
Nicht überall sind die Veränderungen so dramatisch. Aber überall ist Veränderung: in der Energiebranche, der Medizin, bei der Bildung. Jeder Berufstätige kann seine Geschichte erzählen, wie das Internet in den letzten Jahren seine Arbeitsumgebung verändert hat.
Nur fassen lässt sich der Fortschritt schwer. Schon, weil ihn nicht jeder als solchen empfindet. Wenn die Einführung eines computergestützten Abrechnungssystems einen Arbeitsplatz überflüssig macht, ist für den Betroffenen der Fortschritt ein Rückschritt.
Und doch bleibt es ein Fortschritt. Zumindest aus wirtschaftlicher Sicht. Denn Fortschritt war schon immer arbeitsplatzsparend, quasi per Definition. Fortschritt ist, wenn mit gleichen Mitteln mehr oder etwas Besseres hergestellt wird. Oder wenn das Gleiche mit weniger Einsatz produziert wird. So sind wir zu Wohlstand gekommen. Ohne die Einführung des Mähdreschers würden wir noch immer jeden Spätsommer auf den Feldern stehen und unser Überleben für den kommenden Winter sichern.
Wie mit dem Mähdrescher, so ist es mit dem Internet. Es vernichtet Arbeitsplätze und schafft gleichzeitig die Möglichkeit, die eingesparte Arbeitszeit für Sinnvolleres zu verwenden.
Doch das Internet verschärft ein Problem, dem wir nur schwer Herr werden. Da das Internet Informationen rund um den Globus verteilt, dreht sich die Fortschrittsspirale immer schneller. Weil immer mehr Menschen immer mehr wissen, kann in immer kürzeren Abständen Neues auf den Markt kommen. Was heute der Renner ist, ist morgen von gestern. Und mit ihnen, jene die es entwickelt und hergestellt haben.
Strukturwandel nennt sich das dann. Auch wenn die Veränderungen mittlerweile so schnell sind, dass von Struktur häufig nicht mehr die Rede sein kann.
Aber aus dem Industriearbeiter, der so alt wie das Internet ist, und dessen Qualifikationen nicht mehr gefragt sind, wird über Nacht kein Entwickler für Bildungssoftware.
Das Internet hat die Halbwertszeit von Wissen drastisch reduziert. Unser Bildungssystem dieser Entwicklung so gut es geht anzupassen, das ist die vielleicht größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts.
An solch weitreichenden Folgen konnte Joseph Carl Robnett Licklider nicht denken – und er hat sie auch nicht mehr erlebt. Er starb am 26. Juni 1990. Ein Visionär war er dennoch: Im August 1962 schrieb er in einigen Notizen so ziemlich alle Ideen auf, die heute das Internet ausmachen. Nur den Namen „Internet“, den gab es damals noch nicht. Licklider nannte die Vernetzung von Menschen mittels Computer das „Galactic Network“, das galaktische Netzwerk. Vielleicht weist der Name den Weg, wohin sich das Internet noch entwickeln wird.