Wie reich sind wir?

Eine Frau reduziert ihre Arbeitszeit, um sich stärker in einem Verein für psychisch Kranke engagieren zu können. Ein Staat versucht seine überbordenden Schulden in den Griff zu bekommen und beschließt einen Sparhaushalt. Bei einem Sturm bleibt die Katastrophe aus, weil Dank verbesserter Bautechnik die Dämme nicht brechen.

Was haben die drei Beispiele gemein? Sie sind schädlich für unseren Wohlstand. Zumindest dann, wenn man Wohlstand misst, wie man ihn seit Jahrzehnten misst: mittels des Bruttoinlandsprodukts, kurz BIP.

Das BIP zeigt den Wert der Waren und Dienstleistungen an, die in einem bestimmten Zeitraum erstellt wurden. Mitte Januar wird das Statistische Bundesamt das Ergebnis für 2009 vorlegen. Aber was wissen wir dann? Was sagt eine Zahl aus, die ehrenamtliches Engagement nicht erfasst? Die bei vernünftiger staatlicher Ausgabenpolitik absackt? Die nach einer Naturkatastrophe steigt, obwohl durch Wiederaufbauleistungen nur wieder der alte Status Quo hergestellt wird?

„Das Bruttoinlandsprodukt ist schwer unter Beschuss geraten“, schreibt der Wirtschaftsprofessor Hans Wolfgang Brachinger in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift „Wirtschaftsdienst“ und wundert sich: „Haben wir nicht alle im Grundstudium gelernt, dass das BIP zwar der wichtigste ökonomische Indikator ist, dass er aber gleichzeitig kein besonders guter Indikator für den Wohlstand einer Gesellschaft ist?“ Schließlich beschränke das Bruttoinlandsprodukt den Blickwinkel auf das Ausmaß der Marktaktivitäten und erfasse nur monetäre Größen. „Es fehlt der ganze informelle Sektor, die Freiwilligenarbeit, die Schattenwirtschaft“, so Brachinger, der an der Universität Fribourg in der Schweiz das Forschungszentrum für Wirtschaftsstatistik leitet. Das Bruttoinlandsprodukt sage wenig bis gar nichts über den Wohlstand der Durchschnittsbürger eines Landes.

Dabei landet das BIP ständig in den Schlagzeilen, ob es steigt oder fällt. Vielleicht dient gerade uns Deutschen diese Zahl als Projektionsfläche, als Mythos. Als Mythos vom stetigen Aufstieg nachdem das Land in Trümmern lag.

Vielleicht braucht es zur Erklärung aber auch gar nicht das Trauma des Zweiten Weltkriegs. Weil es in der Natur des Menschen liegt weiterzukommen, sich zu verbessern. Wer eine Spülmaschine hat, kann sich nicht mehr vorstellen, täglich Geschirr zu spülen. Wer es gewohnt ist, im Luxusauto unterwegs zu sein, den stören bei einer Kleinwagen-Fahrt die Motorengeräusche. Wer in den eigenen vier Wänden wohnt, will nie mehr Mieter sein. Der Rückschritt ist dem Menschen verhasst. Er kämpft dagegen an. Auch mit dem Mittel der Illusion. Ein von Ausnahmen abgesehen stetig steigendes Bruttoinlandsprodukt wiegt uns in der vermeintlichen Sicherheit, es gehe mit uns stetig bergauf.

Der Abschied von der Illusion hat begonnen. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat ein globales Projekt zur Messung „gesellschaftlichen Fortschritts“ gestartet, das „mittlerweile zum Referenzpunkt für alle Aktivitäten geworden ist, die nach einer Alternative zum Bruttoinlandsprodukt suchen“, so Brachinger. Die Europäische Kommission hat darüber hinaus die Initiative „Beyond GDP“ („Jenseits des BIP“) gestartet und sucht neue Indikatoren zur Wohlstandsmessung. Und der französische Präsident Nicolas Sarkozy berief eine mit fünf Nobelpreisträgern besetzte Kommission ein (Stiglitz-Kommission), um in Zukunft die wirtschaftliche Leistung und den sozialen Fortschritt umfassend bestimmen zu können.

Deren Fazit: Das Bruttoinlandsprodukt sollte nicht abgeschafft, aber um zusätzliche Informationen ergänzt werden. Ziel sei es, „nicht-materielle Aspekte der Wohlfahrt statistisch sichtbar zu machen“.  Dafür sollten zum einen die Wirtschaftskennzahlen verbessert und diese zum zweiten um Indikatoren wie Lebensqualität und Umweltaspekte erweitert werden. So empfiehlt die Stiglitz-Kommission aufzuschlüsseln, wie sich die Einkommensverhältnisse verschiedener sozialer Gruppen verändern, da sich Wirtschaftswachstum ganz unterschiedlich auf die Gesellschaft verteilen könne. Desweiteren sollten Indikatoren wie Lebensdauer, Gesundheitszustand, Schulabschlussquoten, Umfang und Entwicklung von Hausarbeit, Ehrenamt und Freizeit, aber auch Belastungen der Menschen durch Wasser- und Luftverschmutzung, Lärm und schädliche Substanzen sowie die Zahl der Unfälle erfasst werden.

Aber ist denn das alles überhaupt messbar? Und selbst wenn es messbar ist: Wie vergleicht man derart unterschiedliche Lebensaspekte? Indem man alle Einflussgrößen monetär bewertet! Hans Diefenbacher und Roland Zieschank haben dies versucht und einen „Nationalen Wohlfahrtsindex“ erstellt. Dieser liefert ein brisantes Ergebnis: Demnach ist seit dem Jahr 2000 der Wohlstand in Deutschland fast kontinuierlich gesunken. Gründe seien die zunehmende Ungleichheit in der Einkommensverteilung und „negative externe Effekte im Umweltbereich“. Die im gleichen Zeitraum zu beobachtende Zunahme der Hausarbeit und  ehrenamtlichen Tätigkeit hätten die negativen Effekte nicht ausgleichen können, so ihr Fazit.

Der Index allerdings ist mit Vorsicht zu genießen: „Die Verlässlichkeit der Datengrundlage ist für die einzelnen Variablen noch sehr unterschiedlich“, schreiben die Wissenschaftler im „Wirtschaftsdienst“. Während einige Werte auf leicht verfügbaren Daten aus offiziellen Statistiken beruhten, handele es sich bei anderen um Schätzwerte, die bei der Weiterentwicklung des Index verbessert werden müssten.

Es geht uns also zunehmend schlechter? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Denn neben dem Problem, die unterschiedlichen Einflussgrößen richtig zu erfassen und zu bewerten, liegen einem solchen Index auch subjektive Einschätzungen zu Grunde. Wer etwa einen Indikator für „sozialen Fortschritt“ möchte, der muss zunächst einmal sozialen Fortschritt definieren. Jeder kann darunter etwas anderes verstehen.

„Die neue Debatte hat zu einer großen Vielfalt unterschiedlicher Ansätze geführt, ohne dass bislang eine gewisse Einigung auf einen bestimmten alternativen Wohlfahrtsindex erfolgt ist“, schreiben Diefenbacher und Zieschank. Damit wächst aber auch die Gefahr der Manipulation. „Regierungen waren schon immer daran interessiert, dass etwa die Arbeitslosenzahl und die Inflationsraten möglichst niedrig sind“, meint Brachinger, „dieses Spannungsverhältnis wird um zusätzliche Dimensionen erweitert werden, wenn neue, komplexere Wohlstandsmaße etabliert werden, die auch subjektive Komponenten umfassen.“

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Dieser Text erscheint auch im Südkurier.

2 thoughts on “Wie reich sind wir?

  1. Also mein Kind darf Musiker werden. Es muss es dann allerdings bis zu den Berliner Philharmonikern schaffen. Nein, quatsch, im Ernst: Ich kann mir schon vorstellen, dass in einer Gesellschaft, die kaum mehr die Armut kennt, der materielle Wohlstand zunehmend an Bedeutung verliert. Ich hoffe das zumindest. Und Indizien gibt es auch: So steigen zum Beispiel stetig die Ausgaben für unsere Gesundheit und zwar nicht nur absolut, sondern auch der Anteil am Erwirtschafteten.

    Und: Der Grund, warum wir uns ständig mit unseren Nachbarn vergleichen, ist möglicherweise ein evolutionsbiologischer. Es hängt nämlich immer auch von den anderen innerhalb einer Gruppe ab, wo man sich selbst befindet. In der Tierwelt ist das offensichtlich, zum Beispiel bei den Affen: Wo ein Affe in der Hierarchie steht, hängt von seiner Stärke ab, aber eben von seiner Stärke im Vergleich zu den anderen Affen. Ich denke deshalb, dass es – bis zu einem gewissen Grad – ganz natürlich ist, dass wir uns vergleichen. Ich glaube aber auch, dass der daraus resultierende Neid, krankhafte Züge annehmen kann.

    PS: Rechtsanwalt darf mein Kind übrigens nicht werden. ;-)

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  2. Du schreibst: “Weil es in der Natur des Menschen liegt weiterzukommen, sich zu verbessern.”

    Ist das wirklich so? Ist das Streben nach ständiger Verbesserung (was Du gleichsetzt mit ständiger Vergrößerung) wirklich urmenschlich?

    Ich glaube nicht, dass der Antrieb des Menschen, mehr haben zu wollen, aus dem Ursprung herrührt, dass er sich verbessern will (dass er also ehrgeizig ist) sondern aus reiner Gier. Der Mensch will immer besser sein, als die Menschen um ihn herum. Denn nichts macht ihn unglücklicher als der Reichtum seiner Nachbarn. Weil er sich in ständiger Konkurrenz zu seinen Mitmenschen sieht, scheffelt er entweder mit eigener Arbeit Geld, bis er sich ein größeres Auto und eine größere Couch leisten kann, er verschuldet sich dabei oder er wird – weil er beides nicht schafft – kriminell und nimmt es anderen weg. Nach ebendem Prinzip erfolgt auch der Aufstieg auf der Karriereleiter.

    Die Glücksforschung zeigt allerdings, dass dieses Streben nach Mehr irgendwann nicht mehr automatisch zu mehr Glück führt. “Nicht wenige Studien haben ergeben, dass finanzieller und psychologischer Wohlstand zwar tatsächlich parallel zu einander wachsen, allerdings nur bis zu einer bestimmten Schwelle.” (http://www.handelsblatt.com/technologie/forschung/gluecksforschung-macht-geld-gluecklich;2477404)

    Soll heißen: ganz klar, dass eine Gesellschaft, die fast ausschließlich auf dieses Ziel – Maximierung in allen Bereichen – ausgerichtet ist, nicht glücklich sein kann. Wie soll man das aber ändern? Eine statistische Neuberechnung des Bruttosozialproduktes, in welches auch nichtmaterielle Werte einfließen klingt ja ganz nett. Ich bezweifle aber, dass das aus der wissenschaftlichen Diskussion heraus- und in die Köpfe der Menschen hineingelangen kann.

    Das Problem ist doch, dass solche immateriellen Werte in unserer Gesellschaft (ganz besonders in unserem Land) überhaupt keine Anerkennung finden. Jemand, der kein Geld verdient, ist nix wert, egal wie viel Freude er in seiner Umgebung verbreitet. Oder kennst Du irgendjemanden, der vor Freude Purzelbäume schlägt, wenn sein Kind Musiker anstatt Rechtsanwalt wird? Kinder werden in Deutschland oft genug als finanzieller Ballast betrachtet, alte Menschen sowieso.

    Vielleicht sollten wir das Bruttosozialprodukt nicht einfach nur ergänzen, sondern eine zweite Größe einführen, die den Zustand unserer Gesellschaft beschreibt: das Bruttonationalglück. In anderen Ländern gibts die schon.

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