Hätte ich als Jugendlicher in die Zukunft sehen können, die Gegenwart hätte mich in den Wahnsinn getrieben. Es waren die 80er, eine Zeit mit viel Neon, vor allem aber eine Zeit, in der das Wort Handy noch nicht als Substantiv gebraucht wurde. Dabei wäre für keinen ein Mobiltelefon geeigneter gewesen als für mich. Ich war bekannt für meine Unpünktlichkeit, und gerade weil ich dafür bekannt war, verschwand in meinem Freundeskreis mit zunehmender Adoleszenz die Bereitschaft, an vereinbarten Treffpunkten auf mich zu warten. Mir wäre mancher “Wetten, Dass..?”-Abend erspart geblieben, hätte ich schon damals per Handy herausfinden können, auf welche Party, in welche Disko, in welchen Kinofilm die Pünktlichen gezogen waren.
Es ist bekanntlich nicht beim Mobil-Telefonieren geblieben. Es folgte die Kurznachricht SMS, die Informationsverbreitung in Echtzeit über Twitter, die Verknüpfung des gesamten Bekanntenkreises mit Hilfe sozialer Netzwerke.
Das ist nun einigen zu viel geworden. Auf ausgestiegen.com kann man der Welt mitteilen, dass man seine Mitgliedschaft bei Facebook, studiVZ, MySpace, Xing und Co beendet hat. Chronologisch listet die Seite Namen und Gründe auf: “Helmut Ottacher ist ausgestiegen, weil ‘ich mein Zeitkonto im Internet reduzieren möchte'”; “Amalia Bauer ist ausgestiegen, weil ‘ich wieder leben will'”; “Johann Striemitzer ist ausgestiegen, weil ‘ich lieber mit meinen Freunden und Freundinnen rede.'”
Es gibt Menschen, die werfen ihren Fernseher aus der Wohnung mit der Begründung, sie würden eh selten fernsehen. Mir sind diese Menschen suspekt. Man entsorgt ja auch nicht seinen Staubsauger, weil man nur ein Mal die Woche Staub saugt. Warum verweigern sich manche den Medien radikal? Warum möchten sie nicht bisweilen einen spannenden Film schauen, einen interessanten Artikel im Internet lesen, mit ihrem weit verstreuten Bekanntenkreis in Kontakt treten? Woher rührt diese Alles-oder-Nichts-Mentalität? Ich habe dafür zwei Erklärungen, und um es vorweg zu nehmen: beide manchen mir diese Menschen nicht sympathischer.
Technik kann süchtig machen. Dieses Phänomen ist in den Medien selbst reichlich beschrieben worden: das dauerhafte Versinken in Online-Spielewelten, die gefühlte Notwendigkeit stetiger Erreichbarkeit, das ständige Bedürfnis nichts zu verpassen. Wer dieser Suchtgefahr unterliegt, für den kann es durchaus ratsam sein, die Finger von der Technik zu lassen, keine Frage. Viel besser wäre es allerdings, es fände eine Auseinandersetzung mit den Ursachen der Sucht statt. Die radikale Abstinenz ist nämlich auch eine Kapitulation vor der Schwierigkeit, verantwortungsvoll mit den vielfältigen Möglichkeiten umzugehen, die der technische Fortschritt bietet. Wer seinen Fernseher bei Ebay versteigert, entgeht der Verlockung, jeden Tag faul vor der Glotze zu liegen, er nimmt sich aber auch die Möglichkeit, durch gezielte Programmauswahl bisweilen einen unterhaltsamen, bildenden, lustigen Abend zu verbringen. Freiheit heißt, wählen können. Wer sich diese Freiheit beschneidet, raubt sich — selbst wenn er dies freiwillig tut — Lebenserfahrung.
Technik kann Angst machen. Seit tausenden Jahren versuchen die Menschen, Kommunikation von Zeit und Raum zu trennen. Die Rauchzeichen der Indianer, die Erfindung des Papierdrucks, der Fernschreiber, Radio, Fernseher, Internet: Jede dieser Neuerungen hat das Leben der Menschen verändert. Und immer gab es welche, die davor eindringlich warnten. Manche hatten nachvollziehbare Beweggründe (der Kutscher, der vor den Gefahren der Eisenbahn warnt), andere einfach nur Angst. Es sind jene, denen der Status Quo über alles geht, die das Neue zu allererst als Bedrohung sehen, weil ihnen die Neugierde für das Unbekannte abhanden gekommen ist. Sie wollen ihr Leben bewahren, wie es ist, und fühlen sich doch immer unwohler, weil der Wandel, der um sie herum stattfindet, darauf keine Rücksicht nimmt.
Wie gesagt: Radikalverweigerer sind mir nicht sympathisch. Auch weil diese Menschen häufig meinen, sich als Gegen-den-Strom-Schwimmer präsentieren zu müssen. Was die Masse macht, ist nichts für mich, ich weiß es besser, ich bin einzigartig — denken sie. Ich kenne diese Einstellung. Ich war selbst ein wenig so. Meine Unpünktlichkeit habe ich gerne als Anpassungsverweigerung verkauft. Wahrscheinlich war es schlicht Faulheit. Im Übrigen: Ich habe mir irgendwann ein Moped gekauft. Als Handy-Ersatz, sozusagen. Ich konnte damit die potenziellen Orte, an die meine Freunde entschwunden waren, schneller abklappern.